Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
Ich räusperte mich. »Warum wollten sie nach Lompoc?«
Diesmal war es Liza, die nicht verstand. Ich sah es in ihrem Blick.
»Meine Eltern sind auf der Fahrt nach Lompoc ums Leben gekommen«, erklärte ich sorgfältig, als übersetzte ich für eine Ausländerin. »Wenn sie mit der Familie gebrochen hatten, warum fuhren sie dann nach Lompoc?«
»Ach so. Ich nehme an, das hatte mit der Aussöhnung zu tun, die Tante Gin damals arrangierte.«
Ich muß sie auf besondere Weise angestarrt haben, denn ihr schoß plötzlich die Röte ins Gesicht. »Vielleicht ist es doch besser, wir warten, bis Tasha zurückkommt. Sie besucht uns alle zwei Wochen. Sie kann dir das alles viel besser und genauer erzählen als ich.«
»Aber was ist in den Jahren danach passiert? Warum hat nie jemand Kontakt aufgenommen?«
»Oh, ich bin sicher, sie haben es versucht. Ich weiß, sie wollten es. Sie haben oft mit Tante Gin telefoniert. Sie haben also alle gewußt, daß du bei ihr warst. Aber was geschehen ist, ist geschehen. Ich weiß nur, daß Mutter und Maura und Onkel Walter aus allen Wolken fallen, wenn sie hören, daß wir uns getroffen haben. Du mußt unbedingt bald einmal zu uns kommen.«
Ich spürte, daß etwas Seltsames mit meinem Gesicht geschah. »Keiner von euch hat einen Anlaß gesehen, hierherzukommen, als Tante Gin starb?«
»Ach Gott, jetzt bist du ganz verstört. Ich fühle mich scheußlich. Was ist denn?«
»Nichts. Mir ist eben eingefallen, daß ich einen Termin habe«, antwortete ich. Es war erst fünf vor halb zehn. Lizas Geschichte hatte nicht einmal eine halbe Stunde in Anspruch genommen. »Wir werden das wohl ein andermal abschließen müssen.«
Sie machte sich plötzlich eifrig an ihrer Handtasche zu schaffen. »Ja, dann fahre ich jetzt wohl besser. Ich hätte wahrscheinlich vorher anrufen sollen, aber ich dachte, es wäre eine lustige Überraschung. Ich hoffe, ich hab’s nicht verpfuscht. Bist du okay?«
»Natürlich. Alles bestens.«
»Bitte ruf an. Oder ich rufe dich an, und wir treffen uns wieder. Tasha ist älter. Sie kennt die Geschichte viel besser als ich. Vielleicht kann sie dir alles erzählen. Wir waren alle ganz vernarrt in Rita Cynthia. Ehrlich.«
Und dann war meine Cousine Liza weg. Ich schloß die Tür hinter ihr und ging zum Fenster. Eine weiße Mauer zog sich hinter dem Haus am Grundstück entlang, überwachsen von tiefdunkler Bougainvillea. Theoretisch hatte ich unversehens eine ganze Familie gewonnen, Grund zu überschwenglicher Freude, wenn man den Frauenzeitschriften glaubt. In Wirklichkeit aber fühlte ich mich wie jemand, dem soeben alles genommen worden war, was ihm lieb und teuer war, Thema aller Bücher, in denen man von Diebstahl und Einbruch liest.
17
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Das Lokal, das Harris Brown für unser Brainstorming gewählt hatte, war ein Labyrinth ineinander verschachtelter Räume, in deren Mitte eine mächtige Eiche wuchs. Ich stellte den VW auf dem Parkplatz seitlich des Gebäudes ab und trat durch Eingang T in einen Korridor mit Bänken auf beiden Seiten, die für Leute gedacht waren, die nicht gleich einen Platz bekamen und warten mußten, bis ihr Name aufgerufen wurde. Doch das Geschäft lief nicht mehr so gut, und jetzt war hier nur viel Leere mit einigen Gummibäumen und einem Möbel am Ende des Ganges, das aussah wie ein Lesepult. Fensterreihen zu beiden Seiten des Eingangs boten freien Blick auf die Gäste, die in den anschließenden Flügeln des Restaurants speisten.
Ich nannte der Hosteß, die für die Tischverteilung zuständig war, meinen Namen. Sie war eine Schwarze Anfang Sechzig und hatte eine Art an sich, als wollte sie durchblicken lassen, daß sie für diesen Job weit überqualifiziert sei. Arbeitsplätze sind in Santa Teresa dünn gesät, und sie war wahrscheinlich dankbar, daß sie diesen Job hatte. Als ich mich ihrem Pult näherte, griff sie nach einer Speisekarte.
»Mein Name ist Kinsey Millhone. Ich bin mit einem Mann namens Harris Brown hier zum Mittagessen verabredet, aber ich würde vorher gern noch die Toilette aufsuchen. Könnten Sie ihm einen Tisch geben, wenn er kommen sollte, bevor ich wieder da bin? Das wäre sehr nett.«
»Aber sicher«, sagte sie. »Sie wissen, wo die Damentoilette ist?«
»Ich werde sie schon finden«, meinte ich — irrigerweise, wie sich zeigte.
Ich hätte einen kleinen Plan haben oder Brotkrumen hinter mir verstreuen sollen. Zuerst marschierte ich schnurstracks in einen Wandschrank voller Besen und Schrubber, dann durch
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