Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
natürlich. Okay, ich werde versuchen, zur Sache zu kommen. Also, im Jahr 1935 hatte Rita ihr gesellschaftliches Debüt. Am fünften Juli —«
»Meine Mutter war eine Debütantin? Und du weißt sogar noch das genaue Datum ihres Debüts? Du mußt ein hervorragendes Gedächtnis haben.«
»Nein, nein. Das gehört alles zur Geschichte. Jeder in unserer Familie weiß das. Das ist so wie Hänsel und Gretel oder Rumpelstilzchen. Grand ließ nämlich zwölf silberne Serviettenringe machen, in die Rita Cynthias Name und das Datum ihres Debüts eingraviert waren. Sie wollte das bei jeder ihrer Töchter so halten, aber irgendwie hat’s dann nicht geklappt. Sie machte ein Riesenfest zur Feier von Ritas Debüt und lud lauter ungeheuer erlesene junge Männer aus der besten Gesellschaft ein.«
»Aus Lompoc ?«
»Nein, nein, nein. Sie kamen von überall. Aus Marin County, Walnut Creek, San Francisco, Atherton, Los Angeles und so weiter. Grand hatte ihr Herz daran gehängt, daß Rita eine >gute Partie< machen sollte, wie man damals sagte. Aber statt dessen verliebte sich Rita in deinen Vater, der bei dem Fest bediente.«
»Er war Kellner?«
»Genau. Ein Freund von ihm war bei der Firma angestellt, die bei dem Fest für Speisen und Getränke sorgte und das Bedienungspersonal stellte, und hatte ihn gebeten mitzuhelfen. Von dem Abend an traf sich Rita heimlich mit Randy Millhone. Das war mitten in der Depression. Er war eigentlich kein Kellner, sondern arbeitete hier in Santa Teresa bei der Post.«
»Na, Gott sei Dank«, sagte ich trocken, doch die Ironie war an sie verschwendet. »Und was hat er bei der Post gearbeitet?«
»Er war Briefträger. >Ein kleiner Beamter<, wie Grand naserümpfend zu sagen pflegte. Weißes Pack in ihren Augen, viel zu alt für Rita und nicht standesgemäß. Sie kam dahinter, daß sich die beiden heimlich trafen, und machte einen Riesenkrach, aber sie konnte nichts dagegen tun. Rita war achtzehn und ließ sich von keinem etwas sagen. Je mehr Grand schimpfte und zeterte, desto störrischer wurde sie. Und im November war sie plötzlich verschwunden. Sie ist durchgebrannt und hat geheiratet, ohne einer Menschenseele etwas zu sagen.«
»Doch, Virginia hat sie es gesagt.«
»Ach ja?«
»Ja. Tante Gin war Trauzeugin.«
»Ach. Das wußte ich gar nicht, aber eigentlich ist es ganz logisch. Na, wie dem auch sei, als Grand es erfuhr, war sie so außer sich, daß sie Rita enterbte. Nicht einmal die silbernen Serviettenringe hat sie ihr gelassen.«
»Welch grausames Schicksal.«
»Na, damals muß es so gewirkt haben«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was Grand mit den anderen Serviettenringen getan hat, aber es gab einen, um den haben wir uns bei den Familientreffen immer alle gestritten. Grand hatte eine ganze Sammlung Serviettenringe verschiedener Stilarten und so. Alle aus Sterlingsilber«, erklärte sie. »Und wenn sie der Meinung war, eine von uns sei vor dem Essen ungehorsam oder frech gewesen, dann bekam die Übeltäterin Rita Cynthias Serviettenring. Das sollte eine Strafe sein. Verstehst du, es war ihre Art, jemanden zu beschämen, der sich daneben benommen hatte, aber für uns war es das Höchste, wenn wir den Ring bekamen. Rita Cynthia war die einzige aus der Familie, die es je geschafft hatte, wirklich alle Brücken abzubrechen, und das fanden wir großartig. Darum setzten wir uns bei diesen Familientreffen immer heimlich zusammen und stritten darum, wer diesmal Ritas Ring haben dürfte. Diejenige, die siegte, hat sich dann ganz schrecklich benommen, und prompt bekam sie von Grand Ritas Serviettenring. Eine Riesenschande, aber für uns war es ein Riesenjux.«
»Hat denn niemand was dagegen unternommen, daß ihr so einen Wirbel darum gemacht habt?«
»Oh, Grand hatte keine Ahnung. Wir waren sehr vorsichtig, weißt du. Das war mit das Beste an dem Spiel. Ich bin nicht einmal sicher, daß unsere Mütter etwas merkten. Wenn ja, dann haben sie uns wahrscheinlich insgeheim applaudiert. Rita stand in hohem Ansehen bei ihnen und Virginia auch. Das war mit das Schlimmste an Tante Ritas Verschwinden. Wir hatten nicht nur sie verloren, sondern auch Gin.«
»Wirklich«, sagte ich, aber ich konnte kaum meine eigene Stimme hören. Mir war, als hätte man mich geschlagen. Liza konnte nicht ahnen, wie die Geschichte auf mich wirken würde. Meine Mutter war für diese Frauen niemals eine reale Person gewesen. Sie war nichts weiter als eine Symbolfigur, etwas um das man sich balgte wie Hunde um einen Knochen.
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