Kirschenküsse
gewehrt hatte. Außen waren die Rahmen bunt, innen jedoch weiß wie immer.
»Kommt rein!«, forderte uns Ivy auf und strebte dem Kleiderschrank zu, in dem sie ein Chaos angerichtet hatte. Oder sah so ihr Versuch aus, aufzuräumen? Ich musste zugeben, dass es meinem Aufräumdurcheinander sehr nahekam.
»Na, wie war das Camp?«, fragte unsere Miss Gothic im Plauderton, als sei es ganz normal, dass Mona dabei war.
Meine Freundin war zwar keine von denen, die Ivy aufzogen, aber auch Mona hatte eigentlich nichts mit ihr zu tun haben wollen. Wegen der dunklen Aura, wie sie immer erklärte. Wie Mona das Ganze jetzt sah, wusste ich nicht, aber sie wirkte nicht so, als würde sie gleich wieder verschwinden wollen.
»Es war toll, von einigen Irrungen und Wirrungen mal abgesehen.« Ich blickte verschwörerisch zu Mona, die inzwischen die gesamte Geschichte kannte. Mein Tagebuch, das ich Mona mittlerweile geschenkt hatte – das war wirklich eine super Idee gewesen, Mona hatte sich riesig darüber gefreut −, hatte bei der Erzählung sehr geholfen und würde mir nun auch genügend Stoff für den blöden Deutschaufsatz bieten. Aber den schob ich erst mal wieder in die hinterste Schublade meines Gedächtnisses. Es gab ja im Moment auch viel schönere Dinge: jeden Tag eine SMS von Thomas zu bekommen zum Beispiel!
»Ein Foto habe ich dir leider nicht schießen können, die Museumsaufseherin hat mich nach dem ersten Versuch durch das halbe Schloss gejagt«, setzte ich hinzu, worauf Ivy schweigend mit den Schultern zuckte. Offenbar hatte sie nichts anderes erwartet. Dass das schlabberige Kunststoffgebilde auf meiner Schulter irgendetwas mit ihr zu tun haben könnte, kam ihr wohl nicht in den Sinn.
Erneut blickte ich verschwörerisch zu Mona. Die nickte mir zu.
»Dafür möchte ich dir das hier schenken«, sagte ich daraufhin. »Es ist dem Kleid, das ich dir fotografieren wollte, ein wenig ähnlich. Oder besser gesagt, ich habe mich von dem anderen Kleid inspirieren lassen.«
Damit zog ich den Reißverschluss des Kleidersacks auf.
Ivy war sichtlich von den Socken. »Das hast du gemacht?«
Ich nickte. »Ja, zumindest entworfen und zusammengeheftet. Genäht haben es echte Schneiderinnen.«
Die Geschichte vom dem zerschlitzten Prototypen und all den Verwicklungen, die es um das Kleid gegeben hatte, würde ich ihr ein andermal erzählen.
»Das ist klasse!«, rief sie und umarmte mich so ungestüm, dass es mich beinahe von den Füßen riss. Ich hätte gar nicht geglaubt, dass sie so viel Kraft hatte!
»Ist ja gut, du drückst mir die Luft ab!«, keuchte ich, worauf sie ein wenig verlegen lächelnd zurückwich. Die dicken roten Flecke, die auf ihren Wangen glühten, ließen sie wie eine Porzellanpuppe wirken.
»Mir hat noch nie jemand ein selbst genähtes Kleid geschenkt!«
»Warte erst mal, bis du es ausgepackt hast«, warnte ich. »Es wäre ja möglich, dass es zu klein ist.«
Das glaubte ich zwar nicht, so dünn wie Ivy war, aber ich wollte auch nicht, dass sie mich jetzt zur großen Heldin machte.
Als ich das Kleid aus dem Kleidersack holte, purzelte ein kleiner Brief zu Boden. Mona entdeckte ihn sofort und bückte sich danach.
»Ah, wer hat dir denn da einen Liebesbrief untergemogelt?«, fragte sie grinsend.
Ich riss überrascht die Augen auf und mir wurde auf einmal so heiß, als sei das hier der Ballermann im Hochsommer und nicht Ivys dank Klimaanlage gut temperiertes Zimmer.
»Ähm, das weiß ich nicht«, presste ich hervor, während ich Ivy das Kleid in die Hand drückte. Mittlerweile war aber auch sie mehr daran interessiert, den Inhalt des Briefes zu erfahren, als das Kleid anzuprobieren.
Es stand kein Absender auf dem Brief, aber ich erkannte die Schrift sofort. Es war jene, die auch auf dem Zettel mit Thomas’ Adresse stand, dem Zettel, den ich im Bus wie einen Schatz gehütet hatte.
»Los, mach ihn schon auf!«, forderte Ivy, die es vor Neugierde wohl gar nicht mehr auszuhalten schien.
Nun, man konnte nicht sagen, dass er der Poet unter den Briefeschreibern wäre, aber trotzdem klang es doch romantisch, was er geschrieben hatte.
Und wer wollte schon einen Typen, der sich irgendwelche schmalzigen Gedichte aus dem Internet runterlud, damit er bei seiner Angebeteten punkten konnte?
Nein, die Art und Weise, wie es Thomas machte, war mir lieber. Sie brachte mich ohnehin schon genug durcheinander. Er hatte mich Kirschenmädchen genannt!
»Na, was schreibt er?«, drängelte nun auch Mona ungeduldig.
Mein
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