Kirschroter Sommer (German Edition)
…
Würde ich ihn überhaupt wollen?
Ich wusste es nicht. Aber mein Bauchgefühl sagte mir, dass Elyas kein Mensch war, dem man sein Herz zu Füßen legen sollte. Selbst wenn das Unmögliche eintreten und er tatsächlich etwas für mich empfinden würde, wie in aller Welt sollte ich jemanden wie ihn halten können? Es wäre leichter, Wind mit den Fingern zu fangen …
Die Emotionen von damals überrollten mich und breiteten sich wie eine erdrückende, zähflüssige Substanz in meiner Brust aus. Ich bekam das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können.
Niemals, aber auch niemals wieder wollte ich so etwas erleben müssen. Ein zweites Mal würde ich das nicht durchstehen.
»Und manche Menschen verstecken sich hinter einer Maske, weil sie Angst haben, verletzt zu werden.«
Sebastian. Viel zu wenig kannten wir uns, als dass er so eine Aussage über mich treffen könnte. Inzwischen war ich mir sicher, dass nicht ich damit gemeint war, trotzdem begleiteten mich seine Worte wie ein ständiges Summen im Hintergrund.
Dass Elyas mir damals das Herz gebrochen hatte, so wurde mir bewusst, war die eine Sache. Die Nachwirkungen jedoch, die dieses Erlebnis mit sich gebracht hatte, waren mindestens genauso schwerwiegend. Wenn der Mensch wollte, dann konnte er Dingen direkt ins Auge sehen und sie doch nicht wahrnehmen. Aber früher oder später würde der Moment kommen, an dem das Verdrängte so laut zu rufen begann, dass man es nicht mehr ignorieren konnte. Es war nicht grundlos, dass meine nachfolgenden Beziehungen oberflächlicher Natur gewesen waren. Vielmehr hatte mich mein Unterbewusstsein direkt in diese fadenscheinigen, ungefährlichen Verbindungen getrieben. Nur solange meine Liebe schwach genug gewesen und die Kontrolle über meine Gefühle mir nicht aus den Fingern geronnen war, hatte ich mich wohl gefühlt.
Liebe war ein Geschenk, Liebe machte das Leben lebenswert und so viel schöner als es ohne jemals sein könnte. Gleichzeitig trug Liebe aber so viel Macht, so viel Dunkelheit in sich, dass ihr Schatten Menschen unter sich zu begraben vermochte. Liebe konnte alles zerstören, was man sich aufgebaut hatte. Liebe konnte einen dazu bringen, sich selbst zu hassen …
Mein Kopf senkte sich. Die Melodie des Liedes war so schwermütig, so voller Gefühl. Dachte man in der einen Sekunde noch, man würde schweben, so gefroren einem in der Nächsten die Glieder zu Blei, als würde man von einer tonnenschweren Last nach unten gezogen und irgendwann vom Nichts verschlungen werden. Die gesungenen Worte schienen wie flüssige Seide auf der Melodie zu schwimmen und nur für diesen Moment geschrieben worden zu sein. Jede einzelne Zeile passte so sehr, dass ich Gänsehaut bekam. Ich blickte in die Flammen des Feuers, beobachtete, wie sie sich aufbäumten und wieder zurückzogen und das trockene Holz unter sich verschluckten. Mit jedem Knistern verlor das Geäst an Leben, fiel immer mehr in sich zusammen und ergab sich der vernichtenden Macht der Hitze. Irgendwann würde nur noch ein Häufchen Asche an den Kreislauf des Lebens erinnern.
Ich wusste nicht, ob es Traum oder Wirklichkeit war, als sich eine Hand auf meinen leicht nach vorne gebeugten Rücken legte. Ich spürte eine Wärme, die von dieser Stelle ausging und sich über meinen gesamten Rücken verteilte. Die Hand wanderte meine Wirbelsäule empor, bewegte sich ganz sachte, ganz zärtlich und hinterließ auf jedem Zentimeter ein Kribbeln. Die Berührung war anders als sonst, wirkte wie eine liebevolle Geste der Zuneigung. Doch leider … war sie das nicht.
»Elyas …«, sagte ich mit kratziger Stimme. Ohne auch nur ein Wort zu erwidern, löste er seine Hand und augenblicklich wurde die Wärme durch eine unangenehme Kälte ersetzt.
»Tut mir Leid«, flüsterte er und setzte sich auf. Viel zu nah rückte er an meine Seite und blickte mit mir gemeinsam auf meine Hände, die immer noch mit dem Grashalm spielten.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er. Seine Stimme, seine wunderschöne Stimme. Sie schlang sich um mein Herz, wie die Greifarme eines Tintenfischs um sein Opfer.
Ich nickte.
Nichts war in Ordnung, überhaupt nichts.
Elyas streckte den Arm aus und fuhr mit seinen Fingern über den Kratzer, den ich mir heute Nachmittag beim Holzsammeln an der Hand zugezogen hatte. Meine Haut reagierte auf ihn, als wäre sie empfindlich wie dünnes Seidenpapier.
»Was hast du da wieder gemacht?«, fragte er sanft. Seine Finger fuhren über die Wunde und zeichneten
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