Kjell. Das Geheimnis der schwarzen Seerosen
die Alte! Nachdem sich mein Atem langsam beruhigt
hatte, wurde ich sauer. Sauer auf mich selbst. Ich hatte mich
benommen wie ein ängstliches kleines Mädchen und mich von
dieser Frau einschüchtern lassen. Aber ich war kein kleines
Mädchen mehr, das weinend auf dem Boot saß und nach ihrem
Bruder rief. Ich wollte mich nicht mehr ängstigen lassen. Von
niemand mehr!
»Ich bin 19
Jahre und habe schon ganz andere Dinge überstanden!«,
sagte ich mir trotzig vor. Dennoch verwirrte mich das alles sehr. Nur
eines war mir klar: In diesem Wald liefen eindeutig zu viele Leute
rum!
Den Abend verbrachte
ich zusammengekuschelt mit One Ear vor dem Kamin. Die Wärme tat
mir gut und das Knacken der Scheite in den Flammen beruhigte mich.
Dennoch konnte ich nicht verhindern, dass meine Gedanken immer wieder
zu der Begegnung mit der unheimlichen Alten im Wald wanderten. Sie
hatte mir Angst eingejagt, auch wenn ich es mir nicht eingestehen
wollte.
An diesem Abend
schloss ich die Haustür ab. Ich hatte betont fröhlich alte
Schlager im Radio mitgesungen, als ich für den Kater und mich
das Abendessen herrichtete, das aus weichem schwedischen Brot und
Käse bestand. Ich hatte keine Lust verspürt, noch zum
Angeln zu fahren.
Stattdessen
entfachte ich ein Feuer im Kamin und setzte mich mit einem Glas
Rotwein davor. Den Wein hatte ich in der Vorratskammer entdeckt.
Eigentlich mochte ich Wein nicht so gerne, aber jetzt beruhigte er
meine Nerven und machte mich schläfrig. Ich hoffte, Rune würde
nichts dagegen haben, dass ich die Flasche geöffnet hatte. Ich
starrte in die Flammen, während ich den Kater kraulte, der sich
auf meinem Schoß zusammengerollt hatte. Immer wieder sah ich
das Gesicht der alten Frau vor mir. Warum sollte ich verschwinden?
Was war im Wald so gefährlich? War die Frau verrückt?
Ich trank einen
weiteren Schluck des schweren Weines. Dann hörte ich ein lautes
Knirschen. Es kam nicht vom Feuer. Ich fuhr herum und starrte auf die
Fensterfront. Draußen war es stockdunkel. Gerade hatte sich
eine Wolke vor den Mond geschoben. Langsam erhob ich mich und trat
ans Fenster. Dort stand ich und starrte in die Finsternis, bis der
Mond wieder zum Vorschein kam. Sein Licht erhellte die Holzveranda
und den Rasen hinter dem Haus nur spärlich. Meine Augen
gewöhnten sich allmählich an die nächtliche Dunkelheit
hinter dem Fenster, so dass ich bis zum See blicken konnte. Langsam
erkannte ich immer mehr Einzelheiten. Die kleinen Wellen auf dem
dunklen Wasser, das Ruderboot, das am Anleger lag. Aber weder auf dem
Rasen, noch auf dem See war irgendetwas oder irgendjemand zu sehen.
Was hatte ich auch erwartet? Eine Bande gedungener Mörder? Oder
die irre Alte mit blitzendem Messer? Dennoch wandte ich mich
fröstelnd ab. Ich nahm wieder meinen Platz vor dem Kamin ein,
doch so richtig wollte ich mich nicht entspannen. Gerne hätte
ich Vorhänge vor den Fenstern zugezogen, aber im Wohnzimmer gab
es keine Vorhänge. Wozu auch? Richtung See hin stand kein
anderes Haus und eigentlich guckte auch niemand durch die Fenster.
Dennoch fühlte ich mich an diesem Abend beobachtet. Als die
Holzscheite nur noch glommen, stand ich auf und ging ins Bad.
***
Als ich am nächsten
Morgen aufwachte, war der Kater schon verschwunden. »Prima«,
murmelte ich im Halbschlaf, »dabei war er doch heute mit Kaffee
kochen dran.«
Ich krabbelte aus
dem Bett. Wieder fühlte ich mich völlig zerschlagen.
Diesmal lag es nicht an der Autofahrt. Es lag eindeutig an der viel
zu weichen Matratze. In drei Wochen würde ich mich bestimmt
freuen, wieder in meinem eigenen Bett zu schlafen, auch wenn ich das
Haus meiner Eltern nach der Beerdigung erst als schrecklich leer
empfunden hatte.
Der Frühnebel
hing noch vor dem Fenster, als ich die Küche betrat. Ich setzte
wie gewohnt Kaffeewasser auf und ging zur Tür, um einen kurzen
Blick hinaus zu werfen. Die Luft war feucht. Ich hoffte, dass die
Sonne später noch rauskommen würde, sonst war heute
definitiv kein Badewetter.
»One
Ear! Frühstück!«, rief ich den Kater. Doch der ließ
sich nicht blicken. Wahrscheinlich stromerte er durch den nahen Wald
und sorgte selbst für seine Mahlzeit. Gerade wollte ich die Tür
wieder schließen, als mir die Spuren auffielen – Spuren
von nackten Füßen im taunassen Gras. Sie führten rund
um das Haus herum. Rasch zog ich meine Strickjacke und meine
Turnschuhe an und ging hinaus. Ich folgte den Spuren. Sie führten
weiter um das Haus herum bis zum Wohnzimmerfenster. Dem
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