Klack: Roman (German Edition)
erlebst, nicht der, dessen Gewitterböe die Ziegel vom Dach gerissen hat, sondern der andere Sommer, in dem sich Holunderduft mit Fieberschweiß mischt und nebenan das dunkle Mädchen einzieht. Weißt du ihren Namen noch? Ramona? Zum Abschied sag ich dir Goodbye? Nein, nicht Ramona. Clarissa. Das weißt du genau. Du schreibst ja den Namen hundertfach aufs Löschpapier der Schulhefte und flüsterst ihn beim Einschlafen. Ja, Clarissa. Clarissa Tinotti aus Fasano. Sie steht vor der Landkarte, fährt mit der Fingerspitze den italienischen Stiefel abwärts und tippt am Absatz auf einen schwarzen Punkt. Da, sagt sie. Du siehst ihr über die Schulter, schmiegst dich wie unabsichtlich an ihren Rücken, riechst an ihrem schwarzen Haar, hoffst, dass sie deine Erektion nicht spürt, hoffst zugleich, sie möge sie spüren, und starrst auf den hell schimmernden, schmalen Nagel ihres Zeigefingers, der das Wort unterstreicht. Fasano, sagt sie, in Apulien.
Jahre später, du bist längst erwachsen und hast die Liebe erlebt, liest du in einem Buch den Satz, die wahren Lieben unseres Lebens seien die unerreichbaren, unerfüllten. Da musst du für einen flüchtigen Moment auch an Clarissa denken, streichst vielleicht sogar den Satz an, obwohl du zweifelst, ob er stimmt. Als du das Buch zurück ins Regal stellst zwischen all die anderen Bücher, verweht auch Clarissa wie all die anderen Lieben, wie eine Böe des Gewitters.
Aber nun fragst du dich plötzlich, ob das wahre Jahr, das so schnell vorbeigeht wie der Schlager, den deine Mutter in der Küche singt, vielleicht das Jahr ist, in dem du mit der Agfa Clack die schwarz-weißen Fotos machst, die mit grünem Weihnachtsband gebündelt im feuchten Karton liegen. Die Ränder sind leicht gebräunt, das Papier wellig, und die einstmals glänzenden Oberflächen abgestumpft, ermattet. Sie halten fest, was sich im Leben nicht wiederholen lässt. Indem du die Fotos wie ein Kartenspiel auffächerst, hat es den Anschein, als seien von Dingen und Menschen, die einmal real waren, Strahlen ausgegangen, die dich nun erreichen. Die Bilder dessen, was verschwunden ist, berühren dich wie das Licht eines Sterns, der durch Abwesenheit glänzt, als ob eine Nabelschnur des ungreifbaren Lichts den Blick mit den Bildern verbindet. Aber weil du die Fotos gemacht hast, bist du selbst nie im Bild, bleibst immer unsichtbar. Wie im Märchen.
Als hätten sie auch den Duft der Vergangenheit konserviert, riechst du an den Fotos. Verstockt und verschimmelt. In der ungelenken, wichtigtuerischen Handschrift des Vierzehn- oder Fünfzehnjährigen, der du damals warst, sind die Rückseiten beschriftet. Legenden – das, was zu lesen ist.
1
Hanna. Ostermarkt
Unscharf. Verwackelt. Was soll das sein? Eine schräge Plattform. Senkrechtes Gestänge oder Gebälk. Und nackte Mädchenwaden. Der Faltenrock reicht eine Handbreit übers Knie. Eingerahmt von zwei Paar unten eng zulaufenden, schwarzen Hosenbeinen. Ostermarkt 1961? Dein erstes Foto. Unscharf, weil du noch nicht weißt, dass man an der Kamera die Entfernung einstellen muss. Der Hebel wird auf »weit« gestanden haben, während du so nah wie möglich heranwillst. Verwackelt, weil du beim Auslösen die Kamera verreißt und statt der Gesichter nur die Beine erwischt. Die nackten Mädchenwaden gehören zu Hanna, die Hosenbeine links und rechts zu zwei Halbstarken. Das Gebälk, an dem sie lehnen, ist das Geländer der Raupenbahn.
Klack.
In manchen Weinen schmeckt man nur, was man über sie weiß, aber manche Fotos erzählen Geschichten, die man ohne sie nicht mehr wüsste. Du wolltest deine große Schwester mit dem Foto erpressen. Und jetzt weißt du sogar, dass Hanna unter dem Faltenrock ihren rosa Petticoat angehabt haben muss.
Egal ob gerade Ostern war, noch kommen würde oder schon vorbei war – der Ostermarkt fand jedes Jahr in der zweiten Aprilwoche statt und hieß Ostermarkt, weil er immer schon so geheißen hatte. Eine Duftwolke aus gebrannten Mandeln, Bratwurst, Zuckerwatte, Räucheraal, Schmalzkuchen und Türkischem Honig, gemischt mit Stimmengewirr, Lachen und Juchzen aus Karussells, Schiffschaukeln, Riesenrad, Achterbahn und Auto-Scootern.
Ich spielte mit dem blanken 5-Mark-Stück in meiner Hosentasche und überlegte, was ich mir dafür leisten konnte. Verlockend war alles außer dem Kinderkarussell, für das ich natürlich schon viel zu erwachsen war. Es stammte aus dem vorigen Jahrhundert. Oma behauptete, als Kind selber noch auf einem der
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