Klack: Roman (German Edition)
Schandfleck einer ordentlichen deutschen Familie schlicht unzumutbar war.
Kurz vor dem Ersten Weltkrieg vom selben Architekten und im selben Stil erbaut wie unser Haus, war früher auch der Schandfleck ein gepflegtes Zweifamilienhaus gewesen. Im Zweiten Weltkrieg hatte die Gepflegtheit allerdings ein Ende mit Schrecken gefunden. Zwar war unser Viertel von Bombenangriffen verschont geblieben, aber in den allerletzten Kriegstagen hatte die Gauleitung unsere Stadt zur Festung erklärt, die bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen sei. Das wusste ich aus Erzählungen meines Opas, der damals 60 Jahre alt gewesen war und zum Volkssturm eingezogen wurde. Als kanadische Panzerdivisionen am Stadtrand auf ein Dutzend Hitlerjungen und eine Handvoll alter Männer mit Karabinern stießen, die sich ohne jede Gegenwehr ergaben – laut Oma die beste Entscheidung, die Opa in seinem Leben je getroffen habe, abgesehen mal von der Heirat mit ihr –, feuerten die Kanadier zum Zeichen ihrer Entschlossenheit wahllos ein paar Granaten in die Stadt. Eine halbe Stunde später erschien der Oberbürgermeister mit einer Ratsdelegation und erklärte kleinlaut die kampflose Übergabe. Dummerweise war eine der Granaten im Dach unseres Nachbarhauses eingeschlagen, hatte den Dachstuhl in Brand gesetzt, und bis das Feuer endlich gelöscht werden konnte, war auch die erste Etage zerstört. Halbwegs verschont blieb nur die Parterrewohnung.
Auch bei uns war eine Granate eingeschlagen oder genauer gesagt gelandet. Sie hatte nämlich nur ein Loch in die Wand gerissen und war dann im Wohnzimmer einfach liegen geblieben, ohne zu explodieren. Als ich etwa sechs Jahre alt war, erzählte mir Oma von dieser unerhörten Begebenheit des Glücks im Unglück. Teils gruselnd, teils staunend fragte ich, was passiert wäre, wenn die Granate doch explodiert wäre – worauf Oma knapp erwiderte, sie sei aber nicht explodiert. Und das klang so, als wollte sie sagen: Diese Granate wusste, was sich gehört.
Das von einer ungehörigen Granate demolierte Nachbarhaus hätte eigentlich abgerissen werden müssen, aber wegen der Wohnungsnot nach dem Krieg wurde über das unversehrt gebliebene Erdgeschoss einfach ein Flachdach gebaut, gedeckt mit Teerpappe. Seitdem sah die Jugendstilvilla aus Kaisers Zeiten wie ein verwahrloster Geräteschuppen aus. Das Pappdach war als Provisorium geplant, als Behelf, aber als das Haus nach dem Tod des Eigentümers an eine Erbengemeinschaft fiel, fühlte sich offenbar niemand mehr zuständig. Die Miete war an eine Anwaltskanzlei in Köln zu zahlen.
Familie Schulenberg, die nun, endlich, in eine neue Siedlung des sozialen Wohnungsbaus umzog, waren sogenannte Heimatvertriebe aus Ostpreußen. Ende Mai 1945 waren sie angekommen. Zu Fuß. Ihr gesamtes Habe bestand aus dem, was sie am Leibe trugen, und zwei Rucksäcken. Im Rahmen der britischen Zwangsbewirtschaftung, laut Oma »auch so ein Unding«, hatte man ihnen die Halbruine zugewiesen, die sie sich anfangs noch mit einer vierköpfigen Familie aus Schlesien teilen mussten.
Wie der Schandfleck im Originalzustand ausgesehen hatte, konnte ich mir leicht vorstellen, da er fast baugleich mit unserem Haus gewesen sein sollte. Im Parterre wohnten Oma und Opa. Und im ersten Stock wohnten wir. Mein Vater hatte sich angeblich lange dagegen gesträubt, mit seinen Schwiegereltern unter einem Dach zu wohnen, aber was sollte man machen? Man sei ja froh gewesen, überhaupt ein Dach überm Kopf zu haben. Froh über ein paar Briketts oder einen Korb mit Torf. Froh über einen Kanten trocken Brot. Froh über ein Ei pro Monat. Froh über Lebensmittelkarten. Froh über Care-Pakete aus dem Schlaraffenland Amerika. Froh über dies und froh über das. Heil froh! Bei dem Wort schreckte meine Mutter, die derlei Monologe schweigend abnickte, allerdings auf und sah meinen Vater dringlich an, was ihm entging. Man habe sich aber nie unterkriegen lassen. Niemals. Habe die Ärmel aufgekrempelt, zugepackt und aufgebaut. Werde sich auch jetzt nicht unterkriegen lassen. Schon gar nicht vom Iwan und seinen Atombomben. Obwohl der Russe an sich beziehungsweise mal rein menschlich gesehen – wir Kinder wüssten jedenfalls gar nicht, wie gut wir es hätten. Und dann riss der Faden auch wieder.
Anfangs waren unsere Wohnverhältnisse noch so beengt »wie auf einem Hausboot in Hongkong«, sagte Oma. Im Erdgeschoss wurden britische Besatzungsoffiziere einquartiert, die in Omas Augen zwar »höflich, sauber und korrekt« waren,
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