Klassentreffen
ersten Tag ein Drama um so etwas Banales wie einen Schreibtisch zu machen. Schweigend gehe ich in die hinterste Ecke des Sekretariats und richte mich an meinem neuen Platz ein, weit weg von den anderen. Mein Blick fällt auf den Schreibtisch, dem ich früher gegenübersaß.
»Wo ist Jeanine?«, frage ich, und gleichzeitig beginnt ein Drucker zu rattern.
»Kaffee?«, fragt Renée munter.
»Ja, gern.«
»Mit Milch, stimmt’s?«, sagt sie. Ich nicke, und sie verschwindet.
Ist doch nur ein Schreibtisch. Einatmen, ausatmen.
Irgendetwas ist anders. Ich weiß noch nicht genau was, aber die Stimmung hat sich spürbar verändert. Das Interesse an
meiner Rückkehr hat sich schnell gelegt. Ich hatte mich darauf eingestellt, mit den Kolleginnen, vor allem aber mit Jeanine, ein bisschen zu plaudern und zu erzählen, aber um mich herum ist nur Leere.
Alle konzentrieren sich wieder auf ihre Arbeit, und ich sitze in meiner Ecke. Ich greife nach dem Stapel Post im Eingangskorb und frage, ohne jemanden direkt anzusehen: »Wo ist eigentlich Jeanine? Hat sie Urlaub?«
»Jeanine hat vor kurzem gekündigt«, sagt Renée, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen. »Zinzy ist ihre Nachfolgerin. Du wirst sie im Lauf der Woche kennen lernen, sie hat gerade ein paar Tage frei.«
»Wie? Jeanine ist gegangen?«, sage ich verblüfft. »Das wusste ich ja noch gar nicht.«
»Es gibt so einiges, was du noch nicht weißt«, sagt Renée, den Blick nach wie vor auf ihren PC gerichtet.
»Und das wäre?«, frage ich.
Jetzt dreht sie sich zu mir um. »Wouter hat mich im Januar zur Leiterin des Sekretariats ernannt.«
Unsere Blicke treffen sich.
»Aha«, sage ich. »Ich wusste gar nicht, dass so eine Position bei uns überhaupt existiert.«
»Es bestand Bedarf.« Renée wendet sich wieder ihrem Bildschirm zu.
Mir geht so vieles durch den Kopf, dass ich nicht weiß, was ich darauf sagen soll. Ich lege den Poststapel vor mich hin, und plötzlich erscheint mir der Vormittag endlos lang. Ich unterdrücke das Bedürfnis, Jeanine anzurufen. Warum hat sie mir nichts von ihrer Kündigung erzählt?
Ich starre aus dem Fenster, bis ich merke, dass mich Renée beobachtet. Erst als ich mich über die Post beuge, wendet sie den Blick wieder ab.
Herzlich willkommen im Büro, Sabine.
Jeanine und ich haben gleichzeitig hier angefangen, als das Sekretariat noch unbesetzt war. Die BANK hatte kurz zuvor einen neuen Trustfonds eingerichtet, der noch aufgebaut werden musste.
Jeanine und ich kamen gut miteinander aus. Wir lästerten über die Finanzberater und Sachbearbeiter, für die wir Sekretariatsarbeiten erledigten, wir führten gemeinsam ein besseres Ablagesystem ein und vertraten uns gegenseitig am Telefon, wenn eine mal eine halbe Stunde etwas Privates erledigen wollte. Im Großen und Ganzen war ich mit meinem Job zufrieden.
Bald wuchs uns die Arbeit über den Kopf. Für den Trustfonds wurden immer mehr Leute eingestellt, sodass die Sekretariatsarbeit kaum noch zu bewältigen war. Wir brauchten Unterstützung, und zwar schnell.
Jeanine und ich führten gemeinsam die Bewerbungsgespräche, und so kam Renée dazu. Sie arbeitete gut, aber die Atmosphäre veränderte sich schlagartig. Renée war vorher Chefsekretärin gewesen. Sie wusste, wie man ein Sekretariat führt. Und sie fand, dass unser Sekretariat sehr zu wünschen übrig ließ, und das galt auch für Jeanine und mich. Verlängerte Mittagspausen oder mal schnell eine Besorgung machen, wenn’s ein bisschen ruhiger war – solche Dinge fanden vor ihren Augen keine Gnade. Im Grunde hatte sie natürlich Recht, aber dass sie sich in einem persönlichen Gespräch hinter verschlossenen Türen bei Wouter über uns beschwerte, das wiederum fand vor unseren Augen keine Gnade. Wouter jedenfalls war hellauf begeistert von Renée: ein echter Glücksfall für die Abteilung!
»Und die haben wir auch noch selbst eingestellt!«, sagte Jeanine.
Wouter war der Meinung, dass Renée die Einstellung einer vierten Sekretärin in die Hand nehmen solle, denn sie habe den richtigen Blick dafür.
»Wir nicht«, gab ich zu.
»Wie sich gezeigt hat«, meinte Jeanine.
Renée gab Stellenanzeigen in den großen Tageszeitungen auf und telefonierte mit Zeitarbeitsfirmen. Damit war sie vollauf beschäftigt, sodass die ganze Arbeit wieder an Jeanine und mir hängen blieb. Sie führte tagelang Bewerbungsgespräche mit mehr oder weniger gut geeigneten jungen Frauen, aber keine davon wurde eingestellt.
»Es ist so schwer,
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