Stadt der Liebe
Ibi vacabimus et videbimus,
Videbimus et amabimus,
Amabimus et laudabimus.
Ecce, quod evit in fine sine fine.
(Augustinus)
Dort werden wir ruhen und schauen,
Wir werden schauen und werden lieben,
Wir werden lieben und werden loben.
Siehe, das wird das Ende sein,
Dem kein Ende mehr folgt.
Der Held der Novelle, der französische Dichter und Geschichtsschreiber Alain Chartier, ist nicht, wie mancher Leser glauben mag, eine von der Fantasie des Autors geschaffene Figur, sondern er lebte wirklich, und zwar in Paris zu einer Zeit, die, wie die heutige Epoche, zur Wegscheide großer staatlicher und menschlicher Umwandlungen wurde.
Als Chartier 1386 in Bayeux geboren wurde, hatte Karl IV., der Sohn Karls V., des Weisen (1364-1380), nach erbitterten Thronstreitigkeiten mit seinem Onkel gerade die Herrschaft über Frankreich angetreten. Der neue König sorgte unter den selbstherrlichen Herzögen für eine eiserne Thronordnung, die ihn zum unangefochtenen Oberhaupt des Staates werden ließ, ohne daß er allerdings den Absolutismus seines Enkels Ludwig XI. erreicht hätte.
1392, während eines Straffeldzuges gegen den Herzog der Bretagne plötzlich wahnsinnig geworden, erholte er sich erst nach Jahren wieder. 1422 starb er. Sein Sohn Karl VII. wurde in der Geschichte Frankreichs berühmt als der Herrscher, der von der Jungfrau von Orleans 1429 in Reims zum neuen König der Franzosen gekrönt wurde, nachdem der Kampf gegen die unter Heinrich VI., der sich ebenfalls König von Frankreich nannte, in das Land eingefallenen Engländer bis hinter Reims getragen worden war und ein voller Sieg bevorstand.
In diese große Zeit der französischen Geschichte fiel auch das Leben des Dichters Alain Chartier, der als Sekretär Karls VII. einen der bedeutsamsten Zeitabschnitte Frankreichs sozusagen hautnah miterlebte. In späteren Jahren, als der Zwist zwischen dem Dauphin Ludwig und Karl VII. wegen der Staatsmätresse Agnes Sorel offen zum Ausbruch kam, zog sich Chartier von seinem Sekretärposten zurück und wurde zum Dichter einer neuen literarischen Epoche – der allegorischen und didaktischen Dichtung.
Seine Werke ›Deux fortunés‹, das moralisierende, romanartige ›Livre des quatres dames‹, das ›Le lay de la belle Dame sans mercy‹ gehörten zu den beliebtesten höfischen Dichtungen.
Die dichterische Entwicklung Chartiers, dem man heute zu Unrecht Konjunkturismus vorwirft, der aber nur der Spielball seiner ungeheuer bewegten Zeit war, ist verblüffend. Von der Dichtung der Allegorie ging sein Stil in eine mit Lebensweisheit verbundene patriotische Gesinnung über, die sich in Form von Balladen und Gesängen, Epen und Prosa Schriften über das erstaunt aufhorchende Paris ergoß. Sein ›Le lay de Paix‹ (1425) und seine ›Ballade de fougères‹ (1448) waren begeisterte Gesänge einer tiefen Vaterlandsliebe, die er in einer höfischen Schrift ›Le Curial‹ mit einer Schilderung des Hoflebens verband. Darin zeigte er sich als ein weiser und erfahrener Sittenlehrer. Fasziniert von der rätselhaften Persönlichkeit der Jeanne d'Arc (Jungfrau von Orleans) verfaßte er über diese in der Geschichte Frankreichs so bedeutsam gewordene Frau einen Brief, der zu den schönsten Kostbarkeiten der französischen Literatur gehört. Ein Geschichtswerk über Karl VII. vervollständigte seine Universalität, die mit einer Sammlung seiner ›Œuvres‹ sogar einen satirischen Zug erhielt.
Alain Chartier gilt auch heute noch – nachdem er weitgehend im Strudel der Zeit versunken ist – als der Begründer der französischen Beredsamkeit und der didaktischen Dichtung des 14. und 15. Jahrhunderts. An Bedeutung übertrifft er seine geistig wendigeren und weniger selbststrengen Freunde Raoul de Presle, Guillaume de Guilleville, Pierre Michault und Martin Franc.
Sein Todestag – im Jahre 1448 oder 1449; genaueres weiß man nicht – wurde der Abschluß einer strengen höfischen Sittenmoralität, die sich zwischen Krieg und Aufstand festigte und bis zu dem Absolutismus Ludwig XI. ging.
Die Werke Chartiers wurden zum erstenmal gesammelt herausgegeben von Duchesne (1671 in Paris); zu seinen Biographen wurden Delaunay (›Thése sur Chartier‹ – Paris 1876) und Joret-Desclosiere (›Alain Chartier‹ – Paris 1877) und ›Un ecrivain national au XV. siècle‹.
Das Hauptthema der vorliegenden Novelle – der Kuß der Dauphine Margarete von Schottland – ist historisch verbürgt und setzte Chartier in den Augen der
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