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Klassentreffen

Titel: Klassentreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Vlugt
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KAPITEL 1
    Ich habe die Hände in den Taschen meiner Wildlederjacke vergraben, stehe am Strandaufgang und schaue aufs Meer. Es ist der 6. Mai und viel zu kühl für die Jahreszeit. Von ein paar Muschelsuchern abgesehen, ist der Strand leer. Das bleifarbene Meer nimmt bedrohlich schäumend immer mehr Strand in Besitz.
    Ein Stück entfernt sitzt ein Mädchen zusammengekauert auf einer Bank. Auch sie schaut aufs Meer. Sie trägt eine Daunenjacke und feste Schuhe. Neben ihren Füßen liegt eine pralle Schultasche. Ganz in der Nähe steht ihr Fahrrad an den Stacheldraht gelehnt; es ist abgeschlossen, obwohl sie fast daneben sitzt.
    Ich sehe sie an. Ich habe erwartet, sie hier zu finden.
    Blicklos schaut sie aufs Meer. Den Wind, der aufdringlich an ihrer Jacke zerrt, scheint sie gar nicht wahrzunehmen. Er peitscht ihr die hellbraunen Haare ums Gesicht.
    Trotz der scheinbaren Unempfindlichkeit gegen Wind und Wetter hat das Mädchen etwas Verletzliches, das mich anrührt.
    Ich kenne sie. Dennoch zögere ich, sie anzusprechen, denn sie kennt mich nicht. Aber es ist ungeheuer wichtig, dass sie mich kennen lernt. Dass sie mir zuhört. Dass ich zu ihr durchdringe.
    Langsam gehe ich auf die Bank zu, lasse das Meer aber nicht aus den Augen, so als wollte ich die Aussicht auf die wilden Wellen genießen.
    Das Mädchen schaut her; ihr Gesicht zeigt keine Regung. Für einen Moment sieht es so aus, als wollte sie gehen, aber
dann scheint sie sich damit abzufinden, dass ich den Bannkreis der Einsamkeit um sie herum durchbrochen habe.
    Wir sitzen nebeneinander auf der Bank, die Hände in den Taschen, und sehen, wie Himmel und Wasser ineinander übergehen.
    Ich muss etwas sagen. Sonst geht sie womöglich, und wir haben nicht miteinander gesprochen. Aber was sagt man, wenn es auf jedes Wort ankommt? Ich muss erst die richtigen Worte finden.
    Als ich tief Luft hole und mich ihr zuwende, schaut sie mich wieder an. Wir haben dieselbe Augenfarbe. Wahrscheinlich auch denselben Blick.
    Sie ist ungefähr fünfzehn. Genauso alt wie Isabel, als sie verschwand.
     
    Vor vielen Jahren bin ich hier in der Nähe zur Schule gegangen. Jeden Tag fuhr ich die zehn Kilometer mit dem Rad hin und zurück, manchmal mit dem Seewind im Rücken, meist aber mit Gegenwind.
    Der Wind kam vom Meer angerast und hatte auf dem flachen Polder freie Bahn, bis er auf mich traf. Das tägliche Ankämpfen gegen den Wind stärkte meine Lungen, sorgte für eine gute Kondition und gab mir außerdem die Möglichkeit, meinen Frust wegzustrampeln.
    Diese zehn Kilometer zwischen Schule und Zuhause, das Niemandsland aus Wiesen und salzigem Wind, bildeten eine Art Übergangsreich zwischen den zwei Welten, in denen ich lebte.
    Ich schaue aufs Meer, das mit den Wellen einen Strom von Erinnerungen anspült. Ich hätte nicht zurückkommen sollen.
    Was hat mich überhaupt auf die Idee gebracht?
    Die Zeitungsnotiz. Vor zwei Wochen stand ich mit einem Becher Kaffee am Küchentisch und blätterte in der Zeitung.
Es war acht Uhr, ich war angezogen, hatte gefrühstückt, aber keine Zeit mehr, in Ruhe Zeitung zu lesen. Nur die Überschriften, mehr war nicht drin.
    Ich blätterte um, und mein Blick fiel auf eine Notiz in der Randspalte. EHEMALIGENTREFFEN DER GYMNASIASTEN VON DEN HELDER.
    Rasch überflog ich die Ankündigung des Klassentreffens. Es handelte sich um mein altes Gymnasium, das in der Zwischenzeit mit einigen anderen Schulen in Den Helder zusammengelegt worden war.
    Und nun wollen sie ein Treffen für ehemalige Schüler veranstalten. Ich bin dreiundzwanzig, die Schulzeit liegt zum Glück schon einige Jahre zurück.
    Ich denke nicht daran hinzugehen.
     
    Das Mädchen ist weg. Sie ist mir entwischt, als ich kurz in Gedanken versunken war. Macht nichts, bestimmt treffe ich sie wieder.
    Der Wind bläst mir die Haare ins Gesicht und raubt mir immer wieder den Atem. Ja, so war das früher auch. Ich trat bei Gegenwind in die Pedale, während mir die Tränen übers Gesicht liefen. Meine langen Haare hatte ich zu einem Pferdeschwanz gebunden, weil sie sonst total verfitzt wären. Wenn ich sie abends wusch, rochen sie nach Salz und Meer.
    Gerüche ändern sich nicht. Sie überfallen einen, lassen alte Erinnerungen wieder lebendig werden und bringen einen dazu, in den dunklen Ecken des Gedächtnisses herumzustöbern.
    Warum bin ich hergekommen? Was wollte ich damit erreichen? Habe ich etwa geglaubt, es könnte reinigend oder befreiend sein?
    Beides ist nicht der Fall. Es ist verwirrend, eine

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