Klassentreffen
Verärgert drücke ich die Löschtaste, damit der Anruf nicht mehr angezeigt wird. Ich kann es nicht leiden, wenn Leute nach dem Piepton auflegen. Jetzt darf ich mir den ganzen Nachmittag über den Kopf zerbrechen, wer wohl angerufen hat.
Meine Mutter kann’s nicht gewesen sein, die quatscht nämlich immer das ganze Band voll. Die meiste Zeit des Jahres lebt sie mit meinem Vater in Spanien. Ich sehe sie nur selten.
Wahrscheinlich mein Bruder Robin. Er ruft fast nie an, aber wenn, hat er auch wirklich das Bedürfnis, mit mir zu reden. Er hasst Anrufbeantworter und hinterlässt fast nie eine Nachricht.
Ich gehe in die Küche, lege das Schneidebrett zurecht, hole eine Schale Erdbeeren aus dem Kühlschrank, angle zwei Scheiben Vollkornbrot aus der Tüte und bereite meinen üblichen Mittagsimbiss zu. Nichts schmeckt besser als frische Erdbeeren auf Brot. Ich bin regelrecht süchtig danach.
Während ich die Erdbeeren halbiere und aufs Brot lege, denke ich wieder an den verpassten Anruf. Wer kann das gewesen sein? Vielleicht doch nicht Robin, sondern Jeanine? Aber warum sollte sie mich anrufen? Wir haben schon länger nichts mehr voneinander gehört.
Ich stecke mir eine riesengroße Erdbeere in den Mund und gucke gedankenverloren aus dem Küchenfenster. Jeanine und ich haben uns praktisch auf Anhieb verstanden, aber aus irgendeinem Grund hat sich unsere Beziehung auf den Job beschränkt. Als wäre der Übergang von der Kollegin zur Freundin schon zu viel des Guten. Das hat sich auch während meiner Krankheit gezeigt. Anfangs kam sie noch ab und zu vorbei, aber jemand, der nur apathisch auf dem Sofa rumliegt und vor sich hinstarrt, ist keine besonders angenehme Gesellschaft. Nach einigen Versuchen ihrerseits, mich aufzuheitern, was im Übrigen niemandem gelungen wäre, schlief unser Kontakt mehr oder weniger ein. Trotzdem hatte ich mich darauf gefreut, sie heute wiederzusehen. Ich bin ihr auch nicht böse, dass sie sich nicht mehr um mich gekümmert hat, denn mit mir war ja sowieso nichts anzufangen.
Unsere Freundschaft hatte einfach nicht die Chance, sich richtig zu entwickeln, und ich war eigentlich davon ausgegangen, dass wir da weitermachen würden, wo wir aufgehört
hatten. Ich habe einfach nicht das Talent, Kontakte so zu pflegen, dass sich dauerhafte Freundschaften daraus ergeben. Obwohl ich nicht schüchtern bin, gern unter Leute gehe und mich problemlos über Gott und die Welt unterhalten kann, entsteht nie die Nähe, die eine engere Beziehung ausmacht. Wahrscheinlich rede ich zu viel und sage zu wenig. Daran möchte ich auch nicht unbedingt etwas ändern, denn warum sollten die Leute alles Mögliche über mich wissen? Aber das hat nun mal zur Folge, dass sich andere auch nicht dazu berufen fühlen, mich ins Vertrauen zu ziehen. Das war auch während des Studiums so. Meine Kommilitonen mochten mich schon, jedenfalls waren sie immer nett und herzlich. Trotzdem habe ich mich vier Jahre lang wie eine Außenseiterin gefühlt.
Im ersten Studienjahr wohnte ich zu noch Hause. Soweit ich mich erinnere, habe ich nur zweimal ernsthaft nach einem möblierten Zimmer in Amsterdam gesucht. In der Rhijnvis Feithstraat wurde eines angeboten. Erwartungsvoll ging ich hin. Ich klingelte bei der angegebenen Adresse, es summte, und die Tür sprang auf. Auf dem Treppenabsatz erschien ein dicker Mann in Unterwäsche. »Was gibt’s?«, brüllte er zu mir herunter.
Ich sah sein unrasiertes Gesicht und den dicken Bierbauch.
»Nichts«, sagte ich. »Schon gut.«
Das andere Zimmer, das ich mir ansah, lag in der Pijp, genauer gesagt in der Govert Flinckstraat. Es war ein scheußliches Loch unterm Dach mit feuchten Wänden und Aussicht auf gammlige Hinterhöfe voller Wäscheleinen. Dazu gehörte eine versiffte Gemeinschaftsküche und eine Toilette ohne Wasserspülung.
Ich sah mir die Bude an und stellte mir vor, hier zu wohnen. An sich war es schon verlockend, nicht mehr zwei
Stunden täglich mit der Bahn fahren zu müssen. In Gedanken sah ich mich auf dem Weg zur Pädagogischen Hochschule die Herengracht entlangfahren, vorbei an den stattlichen Giebelhäusern, die sich in den Grachten spiegelten, und das mit der Lässigkeit einer Großstädterin, die all die belebten Straßen und Plätze als ihr Wohnzimmer betrachtet. So wäre ich gern gewesen, aber tief in meinem Herzen war ich eben doch ein Landei, das sich den Sprung in die große weite Welt nicht zutraute.
Eigentlich war das Zuhausewohnen gar nicht so schlecht. Ich brauchte
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