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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Zimmer«,
erklärte sie.
    »Aber nicht mit einem saufenden
Collegetypen von Bruder. Nicht wenn gegenüber im gleichen Stockwerk noch ein
Zimmer vollkommen leer steht.«
    Delia legte die Packung Orzo
hin und sah ihm direkt ins Gesicht. Sie fand, er mußte zum Friseur, aber dies
war nicht der Zeitpunkt, ihn daran zu erinnern.
    »Carroll, es tut mir leid«,
sagte sie. »Aber ich bin einfach noch nicht soweit.«
    »Tante Eliza ist soweit! Wieso
du dann nicht? Tante Eliza war auch Opas Tochter, und sie sagt, natürlich kann
ich das Zimmer haben. Sie begreift nicht, was dagegen spricht.«
    »Oh, wenn uns jemand hören würde!«
sagte Delia aufgekratzt. »Müssen wir uns wirklich so einen schönen Tag
verderben und streiten. Wo ist dein Vater? Ist er Patienten besuchen?«
    Carroll antwortete nicht. Er
hatte seinen Toast auf den Teller fallen lassen und wippte trotzig mit dem Stuhl,
sicher machte er noch mehr Dellen ins Linoleum. Delia seufzte.
    »Ach, Junge«, sagte sie. »Ich
weiß, wie dir zumute ist. Und du bekommst auch bald das Zimmer, ich verspreche
es. Aber noch nicht sofort! Nicht jetzt! Es riecht jetzt immer noch nach seinem
Pfeifentabak.«
    »Das gibt sich, wenn ich drin
wohne«, sagte Carroll.
    »Das befürchte ich ja.«
    »Egal, dann gewöhne ich mir
eben das Rauchen an.«
    Mit einem gequälten Lachen
wischte sie seine Worte vom Tisch. »Also«, sagte sie, »ist dein Vater bei
seinen Patienten?«
    »Nee.«
    »Wo ist er?«
    »Er ist laufen.«
    »Er ist was?«
    Carroll nahm sich den Toast und
verspeiste ihn geräuschvoll.
    »Er tut was?«
    »Er läuft, Mama.«
    »Hast du ihm nicht wenigstens
angeboten, mitzumachen?«
    »Er läuft nur auf der
Gilman-Bahn, mein Gott.«
    »Ich habe euch Kinder darum
gebeten; angefleht habe ich euch, ihn nicht allein gehen zu lassen. Was, wenn
etwas passiert und keiner ist dabei?«
    »Hohe Wahrscheinlichkeit,
besonders auf der Gilman-Bahn«, sagte Carroll.
    »Eigentlich soll er überhaupt
nicht laufen. Er soll spazierengehen.«
    »Laufen tut ihm gut«, sagte
Carroll. »Hör mal. Er selbst hat keine Bedenken. Sein Arzt hat keine Bedenken.
Also wo liegt das Problem, Ma?«
    Delia hätte einiges darauf
antworten können, doch statt dessen hielt sie ihre Hand gegen die Stirn.
    Das waren die Tatsachen, die
sie dem jungen Mann im Supermarkt mitzuteilen unterlassen hatte: Sie war eine
traurige, müde, ängstliche vierzigjährige Frau, die seit Jahrzehnten keinen
Champagner mehr zum Frühstück getrunken hatte. Und ihr Mann war noch älter,
gute fünfzehn Jahre älter als sie, und hatte gerade vergangenen Februar beinah
einen Herzanfall gehabt. Angina pectoris, hatte der Notarzt gesagt. Und jetzt
hatte sie jedesmal, wenn er allein ausging, panische Angst, haßte es, wenn er
Auto fuhr, und erfand Ausreden, nicht mit ihm zu schlafen, aus lauter Furcht,
er könne davon sterben, und nachts, wenn er schlief, lag sie angespannt wach,
horchte, wie er lang und tief atmete.
    Und außerdem waren ihre Kinder nicht
mehr klein, sie waren Riesen. Sie waren große, dreiste, unverschämte Geschöpfe
ohne Benehmen — Susie war im letzten Jahr auf der Goucher High-School und von
einer geradezu atemberaubenden Sportbegeisterung; Ramsay, Erstsemester an der
Hopkins-Universität und kurz davor, wegen der achtundzwanzigjährigen
alleinerziehenden Mutter, die er sich als Freundin zugelegt hatte, sein Studium
abzubrechen. (Und beide, Susie und Ramsay, waren unglaublich pikiert, daß die
Familienfinanzen sie zwangen, zu Hause zu wohnen.) Und Delias Baby, ihr süßer,
reizender Carroll, hatte sich in diesen halbwüchsigen Rüpel verwandelt, der die
Flucht ergriff, wenn seine Mutter ihn umarmen wollte, der ihre Kleider
kritisierte und jedes Wort aus ihrem Mund mit entsetztem Augenrollen bedachte.
    Wie zum Beispiel jetzt.
Entschlossen, sich nicht beirren zu lassen, reckte sie sich selbstbewußt und
fragte: »Hat jemand angerufen, als ich nicht da war?« und er erwiderte: »Wieso
soll ich für die Erwachsenen ans Telefon gehen«, — eine Feststellung,
keine Frage.
    Weil die Erwachsenen den
Sellerie für deine liebste Erbsen-mit-Minze-Suppe kaufen, hätte sie ihn aufklären
können, doch im jahrelangen Umgang mit Jugendlichen war sie Pazifistin
geworden, und so marschierte sie auf Strümpfen aus der Küche und quer durch den
Flur ins Arbeitszimmer, wo Sams Anrufbeantworter stand.
    Sie nannten diesen Raum
Arbeitszimmer, und tatsächlich waren an den Wänden ringsum bis zur Decke
Bücherregale, doch hauptsächlich war es

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