Kleine Freie Männer
Bratpfanne. »Ich
gehe zur Königin«, sagte sie.
»Geh nicht«, sagte Roland. »Du bist hier die einzige
andere wirkliche Person außer Sneebs, und er ist keine gute Gesellschaft.«
»Ich hole meinen Bruder und kehre mit ihm heim«,
sagte Tiffany kategorisch.
»Dann begleite ich dich nicht«, erwiderte Roland. »Ich möchte nicht sehen, in was dich die Königin verwandelt.«
Tiffany trat in das schwere, schattenlose Licht und folgte dem Pfad den Hang hinauf. Riesige Grashalme bogen sich über ihr. Hier und dort drehten sich noch seltsamer
gekleidete und sonderbar geformte Leute zu ihr um,
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verhielten sich dann aber so, als wäre sie nur ein Wanderer, der keine Beachtung verdiente.
Sie sah zurück. Der Nussknacker in der Ferne hatte sich einen größeren Hammer besorgt und holte damit aus.
»Will will will Süßes!«
Tiffanys Kopf drehte sich wie ein Wetterhahn im Sturm.
Mit gesenktem Kopf lief sie über den Pfad, dazu bereit, mit der Pfanne auf alles einzudreschen, was sich ihr in den Weg stellte. Sie platzte durch ein dichtes Grasbüschel und erreichte einen von Gänseblümchen gesäumten Ort.
Vielleicht gab es hier eine Laube – sie sah nicht nach.
Willwoll saß auf einem großen, flachen Stein, umgeben
von Süßigkeiten. Viele von ihnen waren größer als er
selbst. Kleinere bildeten Stapel, große lagen wie Baum-stämme da. Und sie leuchteten in allen vorstellbaren
Farben, von Nicht-ganz-Himbeerrot über Falsches-
Zitronengelb, Sonderbar-chemisches-Orange und Eine-Art-Säuregrün bis hin zu Wer-weiß-was-Blau.
Tränen tropften von Willwolls Kinn. Da sie inmitten der Süßigkeiten landeten, wurde es ernsthaft klebrig.
Tiffany erkannte das Problem sofort. Sie hatte so etwas schon einmal gesehen, bei Geburtstagsfeiern. Ihr Bruder litt an tragischem Süßigkeitenentzug. Ja, er war von
Süßigkeiten umgeben, aber sein von Zucker verdorbenes
Gehirn sagte ihm: Wenn er etwas davon nahm, so
bedeutete es, dass er auf den ganzen Rest verzichtete. Und es waren so viele Süßigkeiten, dass er sie nie alle essen konnte. Damit wurde er nicht fertig. Willwoll sah nur einen Ausweg: in Tränen ausbrechen.
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Zu Hause bestand die Lösung darin, ihm einen Eimer
über den Kopf zu stülpen, bis er sich beruhigte, und fast alle Süßigkeiten wegzunehmen. Mehr als einige Hände voll überforderte ihn.
Tiffany ließ die Pfanne fallen und nahm ihren Bruder in die Arme. »Ich bin's, Tiffy«, flüsterte sie. »Und wir kehren heim.«
Und an dieser Stelle begegne ich der Königin, dachte
sie. Aber es erklang kein wütender Schrei, und es
explodierte auch keine Magie. Es geschah … nichts.
In der Ferne summten Bienen, und der Wind rauschte im
Gras, und Willwoll schnappte nach Luft, weil er derzeit viel zu verblüfft war, um weiter zu heulen.
Auf der anderen Seite der Lichtung stand ein Sofa aus
Blättern, umgeben von hängenden Blumen. Aber niemand
saß dort.
»Weil ich hinter dir stehe«, hörte Tiffany die Stimme der Königin.
Sie drehte sich abrupt um.
Und sah niemanden.
»Ich bin noch immer hinter dir«, sagte die Königin.
»Dies ist meine Welt, Kind. Du wirst nie so schnell sein wie ich, oder so klug. Warum versuchst du, meinen Jungen fortzubringen?«
»Er ist nicht dein Junge, sondern unserer!«, erwiderte Tiffany.
»Du hast ihn nie geliebt. Dein Herz ist wie ein kleiner Schneeball. Das sehe ich.«
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Tiffany runzelte die Stirn. »Liebe?«, sagte sie. »Was hat das damit zu tun? Er ist mein Bruder! Mein Bruder!«
»Ja, eine typische Hexensache«, erklang die Stimme der Königin. »Egoismus. Mein, mein, mein. Einer Hexe geht
es nur darum, was ihr gehört.«
»Du hast ihn gestohlen!«
»Gestohlen? Hältst du ihn für eine Art Besitz?«
Tiffanys Zweite Gedanken sagten: Sie findet deine
Schwächen. Hör nicht auf sie.
»Ah, du hast Zweite Gedanken«, sagte die Königin. »Du
glaubst bestimmt, das macht dich sehr hexisch, wie?«
»Warum zeigst du dich nicht?«, fragte Tiffany. »Hast du Angst?«
»Angst?«, ertönte die Stimme der Königin. »Vor etwas
wie dir?«
Und dann stand die Königin vor ihr. Sie war viel größer als Tiffany, aber ebenso dünn. Sie hatte langes schwarzes Haar, ein blasses Gesicht und kirschrote Lippen. Ihr Kleid war schwarz, weiß und rot. Und alles wirkte ein wenig
falsch.
Tiffanys Zweite Gedanken sagten: Es wirkt deshalb ein
wenig falsch, weil sie perfekt ist. Vollkommen perfekt.
Wie eine Puppe. Keine wirkliche Person kann so perfekt sein.
»Das
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