Kleine Freie Männer
Tiffany. »Wen meinst
du damit? Die Leute dort drüben?«
»Diese Leute? Die meisten von ihnen sind gar nicht
real«, erwiderte Roland. »Ich meine die Elfen. Die Königin ist die Königin der Elfen. Wusstest du das nicht?«
»Ich dachte, Elfen wären klein!«
»Ich glaube, sie können so groß oder klein sein, wie sie wollen«, sagte Roland. »Sie sind … nicht ganz real. Sie sind selbst wie … Träume. Sie können so dünn wie Luft
sein, oder so fest wie ein Felsen. Sagt Sneebs.«
»Sneebs?«, wiederholte Tiffany. »Oh … der kleine
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Mann, der einfach nur Sneebs sagt, und dann erscheinen Worte?«
»Ja, der. Er ist schon seit Jahren hier. Von ihm weiß ich das mit der Zeit. Sneebs kehrte einmal in seine Welt
zurück, und sie war ganz anders. Das machte ihn so traurig, dass er einen Zugang suchte und wieder hierher kam.«
»Er ist hierher zurückgekommen? «,fragte Tiffany erstaunt.
»Er meinte, es wäre besser, dort zu sein, wo man
eigentlich nicht sein sollte, als wieder dort zu sein, wo man früher einmal gewesen ist, wo man aber jetzt nicht mehr sein kann, weil nichts mehr so ist, wie es einmal war«, sagte Roland. »Ich glaube zumindest, dass er es so gesagt hat. Er meint, es wäre gar nicht so schlecht hier, wenn man die Königin meidet. Er sagt, man kann viel lernen.«
Tiffany blickte zum buckligen Sneebs zurück, der noch
immer den Nussknacker beobachtete. Er wirkte nicht wie jemand, der etwas lernte. Er sah vielmehr aus wie jemand, der sich so lange gefürchtet hatte, dass die Furcht zu einem Teil seines Lebens geworden war, wie Sommersprossen.
»Man darf die Königin nicht verärgern«, sagte Roland.
»Ich habe gesehen, was passiert, wenn jemand sie
verärgert. Dann schickt sie die Hummelfrauen los.«
»Meinst du die großen Frauen mit den kleinen Flügeln?«
»Ja! Sie sind gemein. Und wenn sich die Königin noch
mehr über jemanden ärgert, sieht sie den Betreffenden an, bis … er sich verwandelt.«
»In was?«
»In andere Dinge. Ich möchte keine Einzelheiten
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nennen.« Roland schauderte. »Für ein entsprechendes Bild wären rote und violette Stifte nötig. Anschließend überlässt sie den Verwandelten den Tromen.« Er schüttelte den
Kopf. »Träume sind hier wirklich. Wirklich wirklich.
Wenn man in ihnen weilt, ist man nicht mehr ganz … hier.
Auch die Albträume sind wirklich. Man kann sterben. «
Dies fühlt sich nicht wirklich an, dachte Tiffany. Es fühlte sich wie ein Traum an. Ich könnte fast daraus
erwachen.
Ich darf nicht vergessen, was wirklich ist.
Sie blickte auf ihr verblasstes blaues Kleid hinab, sah am Saum die schlechte Naht, vom wiederholten Auslassen und Kürzermachen. Sie war wirklich.
Und sie selbst war wirklich. Käse war wirklich.
Irgendwo, nicht weit entfernt, gab es eine Welt aus grünem Gras unter blauem Himmel, und die war wirklich.
Die Wir-sind-die-Größten waren wirklich, und Tiffany
wünschte sich erneut ihre Gesellschaft zurück. Die Art und Weise, wie sie ›Potz Blitz!‹ riefen und alles angriffen, das sie sahen … Irgendetwas daran war sehr tröstlich.
Vermutlich war auch Roland wirklich.
Fast alles andere war ein Traum in einer räuberischen
Welt, die von wirklichen Welten lebte, in der die Zeit fast stillstand und jeden Augenblick entsetzliche Dinge
geschehen konnten. Ich möchte nicht mehr darüber wissen, entschied Tiffany. Ich möchte nur meinen Bruder finden und mit ihm heimkehren, solange ich noch zornig bin.
Denn wenn ich aufhöre, zornig zu sein, kommt die
Furcht, und diesmal werde ich mich wirklich fürchten. Ich 255
werde mich so sehr fürchten, dass ich nicht mehr denken kann, so wie Sneebs. Und ich muss denken…
»Der erste Traum ähnelte einem meiner eigenen«, sagte
Tiffany. »Ich hatte Träume, in denen ich aufwachte,
obwohl ich in Wirklichkeit noch schlief. Aber ich bin nie in einem Ballsaal gewesen … «
»Oh, das war mein Traum«, sagte Roland. »Von früher,
als ich noch klein war. Ich wachte eines Nachts auf und ging nach unten in den großen Saal, und da waren all die Leute mit den Masken und tanzten. Es war alles … hell
und bunt.« Für einen Moment wirkte er sehnsüchtig.
»Damals lebte meine Mutter noch.«
»Dies hier ist ein Bild aus einem Buch, das ich habe«, sagte Tiffany. »Die Königin muss es von mir haben …«
»Nein, sie benutzt es oft«, erwiderte Roland. »Es gefällt ihr. Sie nimmt Träume von überall und sammelt sie.«
Tiffany stand auf und griff nach der
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