Kleine Freie Männer
indem sie die
Klientin in einen Handspiegel und ihren Anwalt, wie ihr sehen könnt, in eine Kröte verwandelte. Ich glaube, am schlimmsten war es, als der Richter applaudierte. Das habe ich als verletzend empfunden.«
»Aber du erinnerst dich an den ganzen Rechts-
verdreherkram«, sagte Rob Irgendwer und richtete einen bösen Blick auf die anderen Anwälte. »He, ihr Ekelpakete, wir ham 'nen billigen Anwalt und schrecken nich' davor zurück, ihn auf euch loszulassen!«
Die anderen Anwälte holten immer mehr Bücher und
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Unterlagen aus der leeren Luft. Sie wirkten besorgt und sogar ein wenig verängstigt. Rob Irgendwers Augen
funkelten, als er sie beobachtete.
»Was war das vorhin mit dem Wisneh-faziem-Kram,
kleiner gelehrter Freund?«, fragte er.
»Visne faciem capite repletam«, sagte die Kröte. »Etwas Besseres fiel mir auf die Schnelle nicht ein. Es bedeutet so viel wie …« Sie hüstelte ein wenig. »›Möchtest du ein
Gesicht, das voller Kopf ist?‹«
»Na so was«, erwiderte Rob Irgendwer. »Wir wussten
gar nich', dass die Juristensprache so leicht is'. He, Jungs, wir können alle Anwälte sein, wenn wir die richtigen
Worte kennen! Schnappt sie euch!«
Die Stimmung der Wir-sind-die-Größten konnte von
einer Sekunde zur anderen umschlagen, besonders dann,
wenn ein Schlachtruf erklang. Sie hoben ihre Schwerter.
»Zwölfhundert zornige Männer!«, riefen sie.
»Nie wieder ein Gerichtssaaldrama!«
»Wir haben das Gesetz auf unserer Seite!«
»Das Gesetz kümmert sich um Halunken!«
»Nein«, sagte die Königin und winkte mit der Hand.
Anwälte und Kobolde verschwanden. Zurück blieben
nur die Königin und Tiffany – im Morgengrauen standen sie sich auf der Wiese gegenüber, während der Wind um
die Steine heulte.
»Was hast du mit ihnen angestellt?«, rief Tiffany.
»Oh, sie sind … irgendwo«, erwiderte die Königin
herablassend. »Es sind ohnehin alles Träume. Und Träume 321
in Träumen. Du kannst dich auf nichts verlassen, kleines Mädchen. Nichts ist wirklich. Nichts bleibt von Bestand.
Alles verschwindet. Du kannst nur lernen zu träumen. Und dafür ist es zu spät. Und ich … ich hatte länger Zeit zu lernen.«
Tiffany wusste nicht, welche ihrer Gedanken derzeit
dachten. Sie war müde. Sie fühlte sich so, als beobachtete sie sich selbst von oben und ein wenig von hinten. Sie sah, wie sie ihre Stiefel fest auf den grasbewachsenen Boden setzte, und dann …
… und dann …
… und dann, wie jemand, der aus den Wolken des
Schlafs kam, fühlte sie die tiefe, tiefe Zeit unter sich. Sie spürte den Atem des Hügellands und hörte das ferne
Donnern alter, uralter Meere, gefangen in Millionen von Schalen. Sie dachte an Oma Weh im Boden, die wieder
Teil der Kreide geworden war, Teil des Lands unter der Welle. Sie glaubte zu fühlen, wie sich um sie herum
gewaltige Räder aus Zeit und Sternen langsam drehten.
Sie öffnete die Augen, und dann, irgendwo in ihrem
Innern, öffnete sie sie erneut.
Sie hörte das Gras wachsen und das Geräusch der
Würmer im Boden. Sie fühlte tausende von kleinen Leben in der Nähe, roch die verschiedenen Gerüche in der Brise und sah alle Schattierungen der Nacht …
Die Räder von Sternen und Jahren, von Raum und Zeit,
verharrten. Tiffany wusste genau, wo sie war, wer sie war und was sie war.
Sie holte mit der Hand aus. Die Königin wollte sie
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festhalten, aber ebenso gut hätte sie versuchen können, ein Rad der Jahre anzuhalten. Tiffanys Hand traf sie im
Gesicht und stieß sie von den Beinen.
»Ich habe nie um Oma Weh geweint, weil es gar nicht
nötig war«, sagte sie. »Sie hat mich nie verlassen!«
Sie beugte sich hinab, und hunderte von Jahren beugten sich mit ihr.
»Das Geheimnis ist, nicht zu träumen«, flüsterte sie.
»Das Geheimnis ist, zu erwachen. Das Erwachen ist
schwerer. Ich bin erwacht, und ich bin wirklich. Ich weiß, woher ich komme und wohin ich von hier aus gehe. Du
kannst mich nicht mehr täuschen. Oder mich berühren.
Weder mich noch irgendetwas, das mir gehört.«
Ich werde nie wieder so sein wie jetzt, dachte Tiffany, als sie das Entsetzen im Gesicht der Königin sah. Ich
werde mich nie wieder so groß wie der Himmel, so alt wie die Hügel und so stark wie das Meer fühlen. Ich habe etwas bekommen, für eine Weile, und der Preis besteht darin, es wieder zurückzugeben.
Und auch der Lohn besteht darin, es wieder zurückzugeben. Kein Mensch könnte auf diese Weise leben. Man kann einen Tag
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