Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
Rennrad, mechanisch trabe ich unter der Woche mittags ins Studio. Ich mache das jetzt schon acht Jahre. Elf Jahre ist es her, dass ich mit dem Laufen anfing. Davor habe ich Sport verabscheut und Sportler für Lebenszeit verschleudernde Dumpfbacken gehalten. Mit Karl Kraus’ Sentenz: »Der Sport ist ein Sohn des Fortschritts, und er trägt schon auf eigene Faust zur Verdummung der Familiebei«, schien mir alles zum Thema gesagt. Ganz von der Hand zu weisen ist das ja nicht. Kann man sich eine dümmere Weltgegend vorstellen als Venice Beach, wo sich dem Sport obendrein der Körperkult beigesellt und ansonsten eine geradezu antiseptische Sinnenfeindschaft herrscht? Selbstverständlich hat Sport eine extrem dumme Seite in seiner stupiden Körperfixiertheit und monotonen Wiederholung des Immergleichen. Selbstverständlich sind die meisten sportlichen Menschen ungebildete und illiterate Wesen (aber das gilt für Menschen schlechthin). Andrerseits fühle ich mich unter verkopften oder nicht mal verkopften Sportphobikern auch nicht sonderlich wohl, weil ich die Missachtung des Körpers mittlerweile ebenfalls für eine Form von Unbildung halte, im buchstäblichen Sinne, denn diese Leiber sind ungebildet.
Es scheint also, um sich am klassischen Ideal des allseits gebildeten Menschen emporzuranken, wieder einmal auf die richtige Dosis anzukommen. Aber welche ist die richtige?
Radfahren, denke ich oft und gerade wieder, ist mindestens ein ebensolcher Quatsch wie darüber zu schreiben. Ausgeklammert sei jenes Radfahren, welches von A nach B führt und dem gezielten Irgendwohinkommen dient, worüber man aber naturgemäß nicht schreiben würde. Gut möglich, denke ich, dass ich überhaupt nicht mehr anders als in diesem Sinne Rad fahre, wenn dieses Buch erscheint; vielleicht war das der höhere Sinn und letztliche Zweck der Niederschrift. »Aber ich wandte mich zu dem Mühevollen, womit ich mich gemüht, siehe, alles war Eitelkeit und Haschen nach Wind« (Prediger, 2,11). Andererseits ist angesichts der überwältigenden Unsinnigkeit des Universums überhaupt jede Beschäftigung Quatsch. Und mich befällt dieses Glücksgefühl, sobald ich im Sattel sitze (manchmal sogar, wenn ich bloß ins Büro radle). Alle Wozu-Fragen sind auf einmal fortgeweht.Man nennt dergleichen wohl, klinisch nicht ganz fundiert, Schizophrenie. Aber es handelt sich um einen entschieden harmlosen Fall.
Fassen wir zusammen:
Radfahren ist pure Stupidität.
Radfahren ist pure Freude.
Radfahren ist Lebenszeitvergeudung.
Radfahren ist die Grundlage für Lebenszeitnutzung.
Radfahren ist eine Plage.
Radfahren ist ein Segen.
Radfahren ist ...
Erotisches
oder:
Vorspiel auf zwei Rädern
Nach so viel passionspessimistischem, ja antipassionablem Einerseits-Andrerseits soll jetzt ein einschränkungslos angenehmer Nebeneffekt der Radsportleidenschaft bedacht und gepriesen sein.
Um diesen auszukosten, bedarf es der Ausfahrt in weiblicher Begleitung – sozusagen der demokratisierten und zugleich zeitgeistig-versportlichten Version des einstmals aristokratischen, inzwischen freilich auch schon weitgehend plebejisierten Ausritts. Ich finde Frauen zunächst einmal in beider Art Sattel sexy, wobei das Fahrrad den Vorzug hat, dass sie sich darauf mehr anstrengen müssen als auf dem Hotte-hüh. Zu diesem Zwecke empfiehlt es sich übrigens, selbst in die kürzeste Tour nach Möglichkeit einen kleinen Berg einzubauen; einer Frau beim Bergauffahren ins hingebungsvoll-angestrengte Antlitz zu schauen, das ist wie ... –
Der Reihe nach. Seitdem die Freizeit herabgestiegen ist zu den parallel mit diversen Verhütungsmitteln ausgestatteten Massen, sind bekanntlich zahllose geschlechtsreife Großstädter damit beschäftigt, sich zwecks sexueller oder existenzieller Partnersuche
zu daten
, wie es neudeutsch heißt. Naturgemäß gehen die meisten in ein Restaurant; Kino, Theater und Konzert erfreuen sich ebenfalls großer Beliebtheit, und in den letzten Jahren vermehrt gemeinsame sportliche Aktivitäten, welche dem Vorspiel-Vorspiel mindestens so nahe kommen wie das wechselseitige Füttern und Schnäbeln bei Tischeoder das Händchenhalten im Dunkel des Vorführsaals. Mit einer Frau, die man nicht näher kennt, Squash zu spielen, ist zum Beispiel eine durchaus prickelnde Angelegenheit. Aber noch mehr plädiere ich fürs gemeinsame Radfahren, aus der empirisch gewonnenen Überzeugung, dass es den heiklen Kennenlernprozess auf unvergleichlich entspannte Weise befördert.
Das
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