Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
Was alljährlich in den drei französischen Juliwochen abgeht, ist nichts anderes als eine permanente Neujustierung des menschlichen Körperleistungslimits. Bei diesem »Wettbewerb im sinnlosen Leiden« (Lance Armstrong) gibt sich der globale Herzkreislauf-Adel ein Stelldichein. Bis Paris zum Peleton zu gehören, geht als Übermenschen-Zertifikat durch.
Die großen Rundfahrten und insbesondere die Tour de France sind als eine Art Hintergrundrauschen in den Köpfen vieler Freizeitradfahrer omnipräsent. Die Profis zeigen, was möglich ist, und manchmal hilft einem der Gedanke an ihre Leistungen beim Weitertreten, wenn scheinbar nichts mehr geht. Der wahre Crack versucht, wenigstens die Distanz zu schaffen, wenn schon die gefahrene Streckenzeit utopisch ist. Anfangs sind Leistungs- und Schmerzgrenze in diesem Sport nahezu identisch. Mit den Jahren lernt man, Erstere immer weiter über Letztere hinauszuschieben. Mit den Jahren wird man kräftiger und kann zumindest jene Berge überhaupt in Angriff nehmen, auf denen sich die Profis um Sekunden duellieren und dabei Tempi anschlagen, die mancher auf dem flachen Lande kaum erreicht. Da es bei Leuten wie mir weder um Sieg noch Ruhm noch Geld geht, stellt sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit die Frage: Wozu?
Bekanntlich ist das versuchsweise Beantworten von Wozu-Fragen der Quell aller Philosophie. Womit der erste der beiden titelgebenden Begriffe annähernd gerechtfertigt wäre. Und der zweite folgt sogleich.
Schmerzgrenzenabstecken
oder:
Wo beginnt die Passion?
In der Bundesrepublik gibt es angeblich ungefähr 65 Millionen Fahrräder (ich habe keine Ahnung, wie man das zählt). Radfahrer ist statistisch gesehen also irgendwie fast jeder. Selbst unkörperlich gesinnte Kollegen kommen bei strahlendem Zentralgestirn schon mal per Zweirad ins Büro. Das wäre die eine äußere Seite des Spektrums. Auf der anderen finden sich Leute wie der bereits mehrfach erwähnte Toursieg-Rekordhalter Lance Armstrong, der sein gesamtes Leben rigide dem Radsport untergeordnet hat und einen Alpenpass hinaufrast, dass man meint, es mit einem Genoptimierten zu tun zu haben. Dazwischen liegen Welten solchen Ausmaßes, wie es innerhalb ein- und derselben Spezies eher ungewöhnlich ist, innerhalb der menschlichen aber, gottlob oder leider, dauernd vorkommt; beim Sport mit seinen exakten Messungen fällt es bloß am meisten auf.
Doch wo beginnt die »Passion«? Bei 10 000 gefahrenen Kilometern im Jahr? Bei 300 Watt Tretleistung? Bei einem Fahrradpreis ab 3000 Euro? Wenn man aufs Rad steigt und nicht mehr zu treten aufhört, bis man nach Stunden wieder absteigt?
Die letzte dieser Richtlinien mag ansatzweise gelten – alle anderen wären zu beliebig. Holen wir uns deshalb die Definition aus dem Begriff. Bevor die Passion zur Liebhaberei, zum Faible oder Spleen wurde, stand der Terminus zunächst für eine zügellose Leidenschaft, die jemanden überkommt, undnoch früher für das Leiden schlechthin, speziell das des Gekreuzigten. Das spätlateinische
passio
bedeutet Erleiden, Erdulden, auch Kranksein. Inzwischen ist der Begriff eindeutig ins Aktive und Gesunde umformuliert worden, aber das schließt keineswegs aus, dass manche Passion ins Pathologische umschlägt und manch Passionierter unter seiner manischen Liebhaberei tatsächlich leidet. Will sagen: Keine
echte
Passion ohne Leiden.
Auf unser Thema gewendet: Die Passion Radfahren beginnt, wenn gelitten wird, allerdings nicht vornehmlich
unter
der Passion, etwa weil sie zu viel Geld oder Zeit verschlingt, sondern wenn das Leiden selbst zum Gegenstand der Leidenschaft wird. Als passionierte Radfahrer sollen also diejenigen gelten, die sich auf ihrem Trainingsgerät mit gewisser Regelmäßigkeit Schmerzen zufügen.
Klingt krank, wie? Wir leben schließlich in einer Kultur der Schmerzvermeidung. Aber wer den Schmerz um jeden Preis meidet, wird auch die große Lust nicht finden. »Alles mit Leichtigkeit Erfolgende erzeugt weder Lust- noch Schmerzgefühle«, konstatierte – Klugscheißer schreiben an solchen Stellen gern:
bereits
– Platon (›Timaios‹, 64 d). Der körperlich extrem leicht ermattbare, aber bei intellektuellen Bergankünften von niemandem zu schlagende Immanuel Kant wiederum befand: »Sein Leben fühlen, sich vergnügen, ist (...) nichts anderes als: sich kontinuierlich getrieben fühlen, aus dem gegenwärtigen Zustande herauszugehen, der also ein ebenso oft wiederkommender Schmerz sein muss« (›Anthropologie in
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