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Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Titel: Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Klonovsky
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bislang achtundneunzigprozentig geschützt haben, ist Radfahren eine überaus bekömmliche Fortbewegungsart. Man belastet Muskulatur und Herzkreislaufsystem kontinuierlich, ohne den Gelenken einen vergleichbaren Tort anzutun wie etwa beim Laufen. Nicht zuletzt bewegt sich der Radler überwiegend in Gefilden, wo der Sauerstoffanteil höher als in der Stadt und die Luft reiner ist, woran auch er selber nichts ändert. Beim Radfahren kommt man deutlich weiter herum als beim Joggen, und weder eine Außenhülle aus Metall oder Glas noch ein Motor blockieren den Kontakt zur Umwelt. Man hört das Zwitschern der Vögel, das Zirpen der Grillen und das Singen der Reifen, dessen Tonart bei jeder Änderung des Fahrbahnbelags wechselt. Nur ein dünnes Trikot liegt zwischen Haut und Welt. Die Sonne brennt, der Wind kann einem gewaltig im Wege stehen, und nichts hält den Regen ab. Ein Anstieg teilt sich unmittelbar den Oberschenkeln mit. Der Radfahrerverbraucht keine Energie außer der körpereigenen. Kein Wesen leidet unter seiner Fortbewegungsart – außer manchmal er selber.
    Überdies ist das Fahrrad ein Therapiegerät. Auf ihm können jene unvermeidlichen Trübsinnsanfälle, die den Menschen hin und wieder heimsuchen, genauso bekämpft werden wie ein veritabler Kater. Auch plötzlich hereinbrechende und fürs Erste unstillbare sexuelle Notdurft beziehungsweise gleichursächliches Herzeleid lassen sich mit anti-selbstischer Grundhärte wenigstens phasenweise aus Augen und Sinn pedalieren. Wer will, kann auf dem Rad nahezu jeden Schmerz vertreiben, indem er einfach einen stärkeren draufsetzt.
    Auf dem Rad kann ich außerdem mein Gehirn entknoten und entschwurbeln, wenn ich mal wieder zu viel intellektuelle Milchsäure produziert habe, indem ich es minutenlang total abschalte und nur noch meinem Herz und meinem Atem zuhöre. Andrerseits rauschen mir auf dem Rad regelmäßig irgendwelche Ideen durch die Rübe, die sich später vielleicht verwerten lassen. Will heißen: Radfahren vermag sowohl meditativ-schädelausspülend als auch geistig-inspirierend zu wirken.
    Sodann kommt diese Leibesübung meiner Neigung zum zeitweiligen Sozialautismus entgegen. Das Rad ist eine fahrtwindgeschirmte Insel, auf der niemand anruft, an die Tür klopft, überhaupt etwas von mir will. »In der Einsamkeit der Flughäfen/atme ich auf«, heißt es in Heiner Müllers ›Hamletmaschine‹. Dieses Gefühl kenne ich gut, dafür liebe ich die Flughäfen, aber noch tiefer atme ich auf, wenn ich mich pedaltretend aus der Welt entferne. Deshalb fahre ich beispielsweise gern an Wochenenden mit leichtem Nieselregen im Voralpenland, wenn die Wolken tief hängen, die Wiesen dampfen und die Straßen leer sind. Dann ist es, als wenn dieWelt in Watte läge. Die wenigen Töne sind gedämpft, still liegen die Gehöfte. Diese Einsamkeit ist ein Balsam für meine vom täglichen Gesichter- und Geredeschaum malträtierten Stadtmenschennerven.
    Für diese Betrachtung ist es übrigens relativ einerlei, ob jemand Rennrad oder Mountainbike fährt. Meine Bevorzugung des Rennrads ist zwar evident, aber im Grunde läuft beides aufs Gleiche hinaus, der Genuss und die Schinderei sind ähnlich. Rennräder sind starrer, unflexibler, auch pannenanfälliger, sie haben in der Regel weniger (und größere) Gänge, insofern sind sie »schlimmer«. Aber dafür eben auch schneller. Über Stock und Stein fahre ich ungern. Für die Mountainbike-Variante dagegen spricht, dass man sich noch weiter in die Einsamkeit der Wälder und Berge davonzustehlen vermag und dabei vor allem dem Straßenverkehr samt seinen Abgasen ausweichen kann.
    Rennradfahrer teilen sich bekanntlich die Straße mit Autofahrern, was beide Seiten mitunter stört. Das diffizile Verhältnis, ein vorwiegend deutsches Problem, wird später kurz thematisiert. An dieser Stelle soll nur der Aspekt von Belang sein, dass mich hin und wieder jemand hinter seiner Autoscheibe mitleidig anschaut. Etwa, weil ich im strömenden Regen fahre und er im Trocknen sitzt. Oder weil ich mich bei sengender Sonne schweißtropfend einen Berg hinaufarbeite, während er die Klimaanlage reguliert und mir ein Wölkchen Abgas zur Inhalation hinterlässt. Oder aber, weil ich bei Schneetreiben durch die Stadt radle, während er sich eines wohltemperierten Gesäßes erfreut. Weil ich den Elementen, diesem täglichen Wunder namens Wetter, ausgesetzt bin und er nicht.
    Manchmal schaue ich dann mitleidig zurück.

Beinrasur
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