Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
die Gymnasialform von Spaß. Spaß kann jeder haben, für den Genuss bedarf es einer gewissen Schulung, einer steten Verfeinerung des Geschmacks. Außerdem ist Genuss »ein leidender Zustand« (Thomas Mann). Leidend im Sinne der Hingabe. Kann man sich dem »Spaß« hingeben? Doch wohl nicht.
Und, noch eine Nummer größer, die
Freude
, der gute alte Götterfunken? Kann mich Radfahren erfüllen? Sagen wir, es ist für mich ein integraler Bestandteil von Freude, wiewohl für sich allein genommen nicht ausreichend, um dieses allumfassende Gefühl zu erzeugen. Aber als Basis eines gelungenen Tages oft unverzichtbar.
Du musst vorher gut essen, um dir eine Grundlage zu schaffen, empfehlen erfahrene Zecher. Du musst vorher gut radfahren, empfehle ich.
Initiationserlebnisse
oder:
Der Mann mit den Einkaufstüten am Lenker
Als Jan Ullrich sich 1997 anschickte, die Tour de France zu gewinnen, war Radsport auf einmal ungeheuer populär. Sahen sich früher ein paar Exoten die Tour im Fernsehen an, hing plötzlich alle Welt vor der Röhre und diskutierte die Siegchancen des Merdingers. Ich kann mich noch gut erinnern, wie Ullrich mit einem mir seinerzeit unbekannten Italiener namens Marco Pantani, dessen braun gebranntschweißtriefende Glatze auf mich beeindruckend guerillamäßig wirkte, bergauf um die Wette fuhr und eine Kollegin die T V-Bilder leicht hysterisch mit dem wiederholten Ausruf »Sieh dir das an: Er bleibt immer sitzen, er geht nicht einmal aus dem Sattel!« kommentierte. Ich saß damals beileibe nicht dauernd vor dem Fernseher, Radfahren interessierte mich nicht sonderlich, aber ich nahm an der sich ausbreitenden »Jan«-Idolatrie sozusagen auf dem Umweg über das kollektive Bewusstsein teil. Ohne Zweifel war der Bursche ein Held. Ohne Ullrich wäre ich viel länger beim Joggen geblieben, hätte mein Knie noch gründlicher ruiniert, aber aufs Radeln wäre am Ende doch alles hinausgelaufen (sic!), nicht zuletzt wegen der Gelenkschäden.
Als Großstadtkind und aus einer absolut bergfreien Region stammend hatte ich bis dato äußerst selten auf einem Velo gesessen, mir nach meiner Übersiedlung nach München aber immerhin ein Stadt- oder auch Altherrenrad gekauft. Vielleicht drei Jahre vor dem ikarischen Auftauchen Ullrichshatte ich mit einem Bekannten auf einem – von dessen Freundin geliehenen – Mountainbike eine, nun ja, Bergtour unternommen. Ich weiß nicht mehr genau, wie der Großhügel hieß, den wir kletternd umrundeten; jedenfalls fuhren wir mit dem Auto irgendwohin an die Zehen der Alpen, die Strecke umfasste etwa 50 Kilometer und war im Mountainbike-Führer als völlig harmlos klassifiziert. Ich trug damals ein kleines Bäuchlein vor mir her und hatte noch keinen sonderlichen Geschmack an Leibesübungen gleich welcher Art gefunden. Bereits beim ersten »Anstieg« (ich bezweifle, dass ich diesen Begriff heute noch dafür durchgehen ließe) machte ich schlapp. Das heißt: Ich stieg vom Rad. Das ist mir später durchaus mal wieder passiert, an immer längeren und steileren Bergen, aber schon beim Premierenversagen ging mir die ultimative Peinlichkeit dieses Vorgangs auf. Meine Beine konnten die Pedale einfach nicht mehr durchtreten, ein flaues Gefühl in den Oberschenkeln – noch nicht mal ein Schmerz – signalisierte, ich möge von Danone-Behältern nicht erwarten, dass sie sich wie Muskulatur aufführten, der Bekannte war weit voraus und blickte sich auch nicht um, vermutlich weil er nicht auf die Idee kam, dass jemand an dieser längeren Bodenwelle kapitulieren könnte. Ich folgte ihm schiebend, was sich an diesem Tag noch wiederholen sollte. Zwei vorpubertäre Knaben überholten mich auf ihren Rädern, was ihnen sichtlich die Brust blähte und sie zum mehrfachen Umdrehen animierte. Ein Knockout mag schlimm sein, vom Rad steigen ist schlimmer.
Im Juli 1997 also ließ ich mich von einem Kollegen zu einer längeren Tour überreden. Inzwischen war ich durch regelmäßiges Laufen vergleichsweise trainiert und fuhr auf einer Kreuzung aus Mountainbike und Trekking-Rad, welches immerhin mein eigenes war, aber anderes als die Streckevon meiner Wohnung ins Büro kaum gesehen hatte. Es war ein knallheißer Julisonntag, wir verließen München gen Süden und hatten zunächst vor, den Starnberger See zu umrunden. Mein Fahrgemeinschaftspartner, Sportredakteur, dünn und fit, stampfte auf seinem alten Rennrad ohne die erkennbare Absicht, jemals wieder anzuhalten, vor mir her, und ich gedachte mit leisem
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