Kleine Portionen
einem Mäntelchen aus Gras, Moos kriecht über rot-rostige Schrauben. Auf beiden Seiten der Gleise: grünblättrige Büsche, Bäume, mannshoher Farn, Gräser und Unkraut. Halb zerbröckelte Holzmasten, von Efeu umrankt, verlieren sich mitten in der Pflanzenwelt. Scharlachroter Mohn, weiße und gelbe Blumen sehen in der üppigen, grünen Umgebung wie Farbschreie aus.
Wo die Bahntrasse endet, links und rechts von dir, erinnern hohe Wände daran, dass du nicht wie ein Schlafwandler irgendwo am Land herumwanderst, sondern in der Großstadt. Von Zeit zu Zeit stößt du auf einen ehemaligen Bahnhof, ein niedriges, zerfallenes Gebäude, dessen Fenster zertrümmert, dessen verfallene Mauern mit Graffiti und geheimen Botschaften dekoriert sind. »Jean liebt Vanessa«, erfährst du. »C Herz und Pfeil Y«. »Robert war hier.« Ein Friedenszeichen. Ein 666. Anarchistische Slogans, kommunistische Parolen. Der Gestank von Pisse und Alkohol liegt in der Luft. Den Bahnsteig übersäen Steine und Glassplitter und Holzstücke und Bierdosen und alte, schmutzige Kleidungsstücke.
Zweimal während deines Spaziergangs trittst du aus dem Schutz der Gebäude. Du stehst auf einer Stahlbrücke. Die erste spannt sich über die Avenue Daumesnil, die zweite führt über den Cours de Vincennes.
Du hältst einen Moment inne. Streckst dein Gesicht der Sonne entgegen. Der Verkehr unten brüllt hin und her. In deinem Rücken tanzen die Autos einen riesigen und chaotischen Reigen um die Place de la Nation herum. Du kannst alles beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Du bist der versteckte, einsame Voyeur des Stadttrubels.
Der Streik
Seit zwei Tagen hatte ich meinen neuen Job, und plötzlich streikten die öffentlichen Verkehrsmittel. Das war ein Volkssport, erklärte man mir, aber mir kam es wie eine Art Mobbing vor, dem mich die Franzosen aussetzten.
Kurzer Rückblick: im Frühjahr 1995 war Jacques Chirac, der ehemalige Pariser Bürgermeister und unangefochtene Chef der Konservativen, zum Präsidenten Frankreichs gewählt worden. Er ernannte Alain Juppé zum Premierminister. Juppé, den er als »den Besten unter uns« bezeichnet hatte. Im Herbst ‘95 beschloss der Premierminister, die Altersversorgung bestimmter Beamter zu reformieren. Im Alleingang, ohne auch nur den Hauch einer Debatte. Eine ausgezeichnete Idee – vor allem in Frankreich.
Die Beamten reagierten herzlich und prompt, indem sie in Streik traten.
Das war eine böse Überraschung für mich. Wie viele andere benutzte ich öffentliche Verkehrsmittel, um in die Arbeit zu fahren. Aber am Morgen des 1. Dezember blieben die Rollläden der nächsten U-Bahn-Station unten. Ein tiefgrauer, bewölkter Himmel verlieh dem Bild einen traurig-müden Anstrich, der Wind fuhr durch die Stein- und Betonschluchten der Stadt. Die Straßen wirkten wie riesige Parkplätze. Autos standen still, Stoßdämpfer an Stoßdämpfer, Abgase waberten über ihnen. Von Zeit zu Zeit ruckte der ganze Stau ein paar Zoll vorwärts, dann kam er erneut zum Stillstand. Auf den Bürgersteigen entdeckten Menschen, die seit Jahrzehnten nicht mehr zu Fuß gegangen waren, wie sie ihre Beine benutzen konnten.
Des Premierministers knapper Kommentar nach ein paar Tagen: »Ich bleibe aufrecht in meinen Stiefeln.« So zuckt der durchschnittliche Premierminister auf gut französisch mit den Schultern, um auszudrücken: »Ist mir doch egal«. Mit den Schultern zu zucken durfte ihm nicht schwergefallen sein. Seine Stiefel waren ja nicht zum Laufen gemacht. Er wurde in einer großen, schwarzen Limousine herumkutschiert. Und er hatte einen Fahrer, na klar.
Ich hatte keinen. Ich musste durch die ganze Stadt latschen, fast drei Stunden pro Tag. Der erste Frost war über das Land gefallen. Und eine ganze Hauptstadt war blockiert, gelähmt, im Stau. Es gab Tage, wo ich den Daumen rausstreckte, weil mir einfach zu kalt war. Fast immer fand sich eine freundliche Seele, die mich in ihrem Auto mitnahm. Aber normalerweise bat ich nach einer Stunde, man solle mich doch bitte wieder aussteigen lassen, weil wir gerade einmal 500 Meter zurückgelegt hatten. Ich konnte es mir nicht leisten, allzu spät in die Arbeit zu kommen.
Ich lernte damals die Stadt gut kennen. Ich sah Raben durch den frühwinterlichen Himmel ziehen. Ich sah elegant gekleidete Frauen auf Stöckelschuhen über gefrorene Bürgersteige schlittern. Ich sah, wie dicke Taxifahrer junge Bankmanager in Designer-Anzügen schroff abwiesen. Ich sah, wie Damen in
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