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Kleine Portionen

Kleine Portionen

Titel: Kleine Portionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moitzi
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wir uns die Hände vor den Mund halten, um nicht laut loszulachen. Der Pfarrer sprach ein paar Worte, das Weihnachtsevangelium wurde gelesen. Die Einfachheit der Zeremonie, die Bescheidenheit der Teilnehmer rührte mich immer. Hier kamen wir dem Wesen von Weihnachten sehr nah.
    Dann gingen wir nach Hause. Wir legten unsere Geschenke unter den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer, schalteten das Licht aus und zündeten die Kerzen am Baum an. Wir sangen ein gutes Dutzend Weihnachtslieder, während sich das flackernde Kerzenlicht in unseren Augen widerspiegelte. Mein Vater und meine Schwester spielten einige Stücke auf ihren Flöten. Dann wurden die Geschenke verteilt. Anschließend gab es ein einfaches Abendmahl.
    Es war eine ruhige, friedliche, stille Nacht. Wirklich eine heilige Nacht.

»Stuck by this river« [1]
     
    »Here we are, stuck by this river, you and I underneath a sky that’s ever falling down, down, down …« [2] , singt Brian Eno. Hören wir seinem Lied zu, während unser Blick langsam über die Seine gleitet. Ein regnerischer Morgen dämmert heran. Die schwarzen Straßen, Lampen, Brückensteine glänzen nass, ein nebliger Schimmer schwimmt auf dem schnell fließenden Fluss. Die Kais, Brücken, Straßen sind leer, die Stadt schläft noch. Au ß er dem Fluss, den steinernen Ufern, der städtischen Architektur, dem Regen und der Musik nehmen wir kaum etwas wahr. Es ist diese frühe Morgenstunde, wo die Hauptfarbe grau ist, grau in tausend Schattierungen, welche die gesamte Farbpalette beinhalten. Es ist diese frühe Morgenstunde, wo man nur vage Gestalten, Silhouetten, Formen und Schatten erkennt. Eine gewisse Trostlosigkeit hüllt die Szene ein, mit Eno, der leise sein Lied singt, und dem Klavier, dessen spärlich fallende Noten die kostbaren Regentropfen nachahmen, die wir auf die Seine fallen sehen.
    Die Seine verkörpert wie alle Flüsse, was fließt: Tränen, Leben, Liebe, das Universum. Auch die Stunden dürfen fließen. Die Straßen dürfen geschäftig werden und sich mit hupenden Autos füllen, mit Bussen, Mopeds, Fußgängern, mit Touristen, die fotografieren oder einen Blick auf die alten Bücher der Bouquinisten werfen. Steigen wir zu Fuß die steile Treppe zu den Kais hinunter. Ein junger Mann mit Dreadlocks steht unter dem dunklen Bogen des Pont du Carrousel und spielt eine traurige Melodie auf seinem Saxophon. Die Noten hallen von den Steinmauern wider. Er spielt, ohne Notiz von den vorbei schlendernden Fußgängern zu nehmen, ohne die heruntergekommene Umgebung zu sehen, ohne den starken Uringestank zu riechen, ohne die Wellen zu hören, die unablässlich gegen die schrägen, steinernen Ufer klatschen.
    Ein Bateau-Mouche bewegt sich langsam stromabwärts. Wir hören, wie der Fremdenführer die Sehenswürdigkeiten erklärt, wie die Touristen jubeln und applaudieren; Kinder winken uns fröhlich zu, kalter Wind füllt unsere Ohren. Liebespaare schlendern Händchen haltend die Kais entlang, eingehüllt in selige Liebe und warme Mäntel. Ein alter Mann auf einer Steinbank füttert Tauben; er zupft von einem altbackenen Baguette Brocken ab und wirft sie auf das moosige Kopfsteinpflaster. Die Vögel streiten sich um die größten Stücke.
    Unser Ziel ist die Ile de la Cité. Am Pont Neuf müssen wir also zum Lärm der Straßen zurück, zu den stampfenden Touristenhorden, den griesgrämig-verspäteten Parisern, dem endlosen Verkehr und den stinkenden Autoabgasen. Wir laufen beinahe über die Brücke. Vor uns steht die Reiterstatue König Heinrichs IV., des guten Königs Henri. Wir fliehen vor dem eisigen Statuenblick des Monarchen die Stiege hinunter.
    Hier befinden wir uns an der westlichen Spitze der Seine-Insel. Früher nannte man diesen Teil die Ile au Pendu, die Insel der Gehenkten. Tatsächlich wurden hier die verurteilten Kriminellen gehängt. Zu Ehren des guten Königs Henri – sein Spitzname war Le Vert Galant, in etwa: der alte Schelm – hat man diesen Anhang der Ile de la Cité umbenannt; er heißt jetzt Square du Vert Gallant. Wir folgern, und haben dazu guten Grund, dass der gute König Henri nicht nur gut, sondern auch ein ganz schöner Schürzenjäger war.
    In der Mitte des Squares liegt ein kleiner Park mit Bäumen und Rasenflächen. Mütter haben ihre Kinder hierher gebracht; die Kleinen laufen herum, spielen Fangen, kreischen. Eine Möwe kreist über der Insel. An der Spitze ein Dreieck aus Kopfsteinpflaster. Gruppen von Jugendlichen sitzen dort, plaudern, gestikulieren, beißen in

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