Kleine Portionen
Höchstgeschwindigkeit.
Es war das erste Mal, dass ich zu einer Hochzeit eingeladen war. Ich hatte meinen besten Anzug mitgenommen. Etienne auch, er hatte seinen Thierry Mugler-Anzug eingepackt. Wir waren zu fünft im Abteil, fünf Freunde der Braut.
Eineinhalb Stunden später spuckte uns der Zug in Poitiers aus. Es war ein lauer, bunter Oktobertag, eine späte Sonne badete die Stadt in goldenem Glanz. Die Blätter, dunkelgrün, rot, orange und gelb, baumelten fröhlich von den Bäumen oder sanken auf die Erde herab, nachdem sie traumähnlich in der Luft gezögert hatten.
Die Schwester der Braut kam uns abholen. Wir ließen Poitiers hinter uns, drangen in die tiefe Provinz vor. Die Wälder, durch die wir fuhren, erstrahlten in unterschiedlichen Farbtönen und Schattierungen, dunkelgrün, rot, orange, gelb. Sie wechselten sich mit immer noch glänzend grünen Wiesen ab, die saftig und heiter auf den Hügeln dösten. In der Ferne konnte man ehemalige Vulkane erkennen. Meine Freunde spielten Rätselraten, sangen Lieder, erzählten einander Witze.
Wir erreichten den kleinen Weiler in der Mitte von Nirgendwo und Natur, wo die Hochzeit stattfand. Der Weiler sah malerisch aus, als ob er einem Sagenbuch entsprungen wäre. Ich dachte, gleich und gleich würden Elfen und Faune und Zwerge hinter dem Ast eines knorrigen Baumes hervorgucken. Die kurvige Straße brachte uns zu einer niedrigen, halb zerfallenen mittelalterlichen Kirche hinauf. Sie war aus hellgrauem Stein und mit Schieferziegeln gedeckt. Eine Steinbrücke führte über einen blau-grünen Fischteich; die Nachmittagssonne spiegelte sich auf seiner von Algen halb zugeschleimten Oberfläche wider. Ein paar alte, schiefe Häuser umschlossen den Platz vor der Kirche. Hinter dem letzten Haus lagen Gärten und Felder mit wilden Blumen und hohem Gras.
Dann wurde es Zeit, sich umzuziehen und die Familie, die Braut, den Bräutigam, Mütter, Schwestern, Brüder, Väter, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen und den Rest der Freunde zu begrüßen. Wir tranken ein Gläschen, und dann ab in die Kirche. Die Zeremonie war langweilig, der Priester lispelte und schwafelte umständlich vor sich hin, dass der Mann für die Frau und die Frau für den Mann geschaffen seien. Dass die Natur von ihnen verlangte, sich zu vereinen und sich fortzupflanzen. Ich musste ein Lachen unterdrücken. Als wir in die wärmende Sonne zurückkamen, rochen wir nach Weihrauch und Scheinheiligkeit.
Wir fanden uns alle auf der Wiese hinter der Kirche ein. Dort hatte man lange Büffettische errichtet und blendend weiße Tischtücher darüber gebreitet. Man bot uns halb verbrannten Kuchen an, ein französischer Hochzeitsbrauch. Champagner floss in sehnsüchtig ausgestreckte Gläser.
Der restliche Tag, der Abend und die Nacht bestanden aus: Leute umarmen und Hände schütteln und mehr Champagner in sich hineinschütten und in einer großen Halle essen und Rotwein in sich hineinschütten und Weißwein in sich hineinschütten und lachen und reden und zuhören und tanzen und weitere Spirituosen in sich hineinschütten …
Am nächsten Nachmittag fuhren wir wieder ab, immer noch halb betrunken und ausgelassen.
Aufgelassene Bahnstrecke
Von Etiennes Schlafzimmerfenster aus hast du einen ungehinderten Ausblick über Paris; die umliegenden Gebäude stehen in einiger Entfernung, ihre Fenster spiegeln wie matt-blinde Augen das Sonnenlicht wider. Unterhalb der Schlafzimmerfenster liegen die Schienen einer alten, aufgelassenen Eisenbahnlinie.
Vor einiger Zeit, während er arbeitslos war, hat Etienne einen Zugang zu den Gleisen gefunden. Er hat dich eifrig und aufgeregt in sein Geheimnis eingeweiht wie ein Schuljunge, der dir seinen kostbarsten Schatz zeigt.
Du folgst also der Avenue Daumesnil, biegst nach links ab, brauchst noch etwa zehn Minuten. Auf der Rückseite eines Mehrfamilienhauses findest du einen Zaun und an einer Stelle ein großes Loch. Du schlängelst dich durchs Loch und stößt auch schon auf die Gleise. Richtung Süden enden sie in einem Industriegebiet. Im Norden kannst du fast bis zur Porte de Bagnolet wandern, wo die Schienen in einem langen Tunnel verschwinden.
Im Winter atmet die Landschaft Verlassenheit und Nachdenklichkeit aus. Den Rest des Jahres über hast du den Eindruck, in einem Sagenland gelandet zu sein. Du folgst den verrosteten Doppelsträngen, stolperst häufig über Betonschwellen. Die Vegetation hat ihre natürlichen Rechte wiedererlangt. Das Schotterbett verschwindet unter
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