Kleine Schiffe
»Sport tut dir gut. Du hast eine gute Figur.«
»… bekommen!«, gebe ich offen zu. »Du hättest mich direkt nach der Geburt sehen sollen. Oder im siebten Monat. Mein Arbeitstitel für Amélie war Willy – wie der Wal aus dem Kinofilm. Und ich war Willys Mutter!«
»Wieso gibt es hier im Haus eigentlich nirgendwo Bastelsachen und Strickkörbe?«, fragt Andreas.
»Höre ich da etwa einen ironischen Unterton?«, erwidere ich in gespieltem Ernst.
Andreas küsst meine Schulter. »Entschuldigung, aber früher stand doch überall solches Zeug bei uns herum.«
»Dafür habe ich keinen Bedarf mehr. Die Kinder, der Sport, der Chor, die Nachhilfe …«
»Meinst du denn, dass du bei diesem Terminkalender überhaupt noch Zeit für mich findest?«
Während meine Hand zielsicher den Weg unter die Decke findet, antworte ich: »Das merkst du doch gerade.«
Andreas rollt sich über mich. Er schließt die Augen nicht, als er mich küsst und flüstert: »Wir haben viel nachzuholen.«
In dieser Nacht schlafen wir wenig. Irgendwann steht Andreas auf, um die Kerze auf der Fensterbank zu löschen. Dabei fällt ihm der Bilderrahmen mit Mamas Lieblingsgedicht auf. Leise liest er: »In dem Meer der goldenen Stoppeln segeln/Kleine Schiffe, weiß und leicht erbaut; Und in Träumen seiner lichten Weite/Sinkt der Himmel wolkenüberblaut.« Er bläst die Kerze aus. Als er wieder unter die Decke schlüpft und seinen kühlen Körper an meinen warmen schmiegt, sagt er: »Das Gedicht da, es ist schön.«
Ich habe Andreas noch nie etwas von der Bedeutung dieses Gedichts für mein Leben erzählt. Und wie Papa es auf Mamas Beerdigung gelesen hat. Nur Simon weiß davon. Ich werde es Andreas auch nicht erzählen. Weil die Missverständnisse zwischen Papa und mir der Vergangenheit angehören – auch, wenn er sich Weihnachten daneben benommen hat. Ich sehe ihn, wie er am ersten Weihnachtstag verkatert von mir Abschied nahm.
Er umarmte mich. »Franzi, das war ein Rückfall! Ich möchte mich dafür entschuldigen. Und weißt du was, im nächsten Jahr koche ich an Heiligabend!«
Ich lächele Andreas an. »Das war das Lieblingsgedicht meiner Mutter. Papa hat es einmal für mich gerahmt, und beim Umzug habe ich den Rahmen wiedergefunden.«
Andreas streichelt meine Schulter. »Kleine Schiffe. Da muss ich natürlich ans Segeln denken. Weißt du, vielleicht segeln wir doch noch einmal zusammen?« Er erzählt von dem Boot, das er sich mit Kollegen in Aabenraa teilt. »Ich bin dort der Älteste, aber noch ist das kein Problem. Beim Skipper geht es ja vor allem um Erfahrung.«
»Du wirst dich daran gewöhnen müssen, der Älteste zu sein.« Ich berichte vom Klassentreffen und Babettes Schreckensvision. Andreas grinst. »Mit der Gehhilfe zur Abiturprüfung? Die hat dich wohl verwechselt!«
»Aber älter als die meisten anderen Eltern werden wir immer sein.«
Andreas zuckt mit den Achseln. »Na und? Weißt du, wir sind halt älter. Aber vielleicht auch lustiger.« Ich finde es schön, dass er mich tröstet, und ergänze: »Oder dicker.«
Andreas lächelt. »Richtig, alle sind immer anders! Es geht doch nur darum, dass wir die Kinder lieben. Lass uns hoffen, dass sie uns nicht eines Tages peinlich finden.«
Ich lehne mich an ihn. »Was redest du da? Sie werden uns auf jeden Fall irgendwann peinlich finden. Spätestens, wenn sie in die Pubertät kommen. Aber das geht auch den Kindern von Hollywood-Schauspielern und Pop-Größen so. Selbst Oscar-Gewinner sind in den Augen ihrer Kinder früher oder später …« Andreas beendet den Satz für mich und sagt: »… alte Säcke.«
Er streichelt meine Wange. »Ich finde, Anderssein ist kein Makel. Es kann eine Auszeichnung sein. Dafür spricht doch auch, dass du Lilli bei der Schwangerschaftsgymnastik kennengelernt hast. Du warst anders. Sie war anders. Und du hast erkannt, was wirklich in ihr steckte!« Momentan scheint Andreas alles zu bewundern, was ich tue und erreicht habe, denn in seinem Tonfall liegt Respekt – als hätte ich mich im Dschungel richtig verhalten, als ein gefährlicher Tiger meinen Weg kreuzte.
»Lilli entschied selbst, wer sie kennenlernte.«
»Aber wie viele Frauen in deinem Alter hätten sich darauf eingelassen?«
Ich muss lachen. »Womit wir wieder beim Thema wären. Bei der Schwangerschaftsgymnastik war ich die Einzige in meinem Alter. Und Lilli hatte immer ein Herz für Außenseiter.« Ich gebe Andreas einen zärtlichen Nasenstüber. »Aber erstens gewöhnt man sich daran,
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