Kleine Schiffe
und zweitens werden wir immer mehr.«
»Bei einer Lebenserwartung von durchschnittlich achtzig Jahren ist das doch ein sinnvolles Konzept. Ich habe vor, noch mit siebzig zu joggen.« Seine Hand gleitet über meinen nackten Rücken. »Und nicht nur joggen …«
Mir fällt etwas ein. »Du, mein Vater hat Weihnachten so etwas angedeutet … Was meinst du, könnte es sein, dass er sich auf seine alten Tage noch einmal verliebt hat?« Ich erzähle von Papas befremdlichem Ansinnen, auf seine Figur zu achten, und von der Erwähnung dieser flüchtigen Bekannten. Andreas lacht. »Ist das nicht genau das Wunderbare am Leben? Gleichgültig, wie alt man ist – die Träume bleiben! Wenn sich der olle Hermann nochmals an die Liebe herantraut, dann könntest du doch riskieren, wieder mal ein Boot zu betreten!«
Ohne nachzudenken, antworte ich: »Ja, vielleicht.« Dann erst setzt mein Denken ein. Nervös lausche ich meinen Worten nach.
Andreas setzt sich auf. »Wirklich? Stell dir mal vor, Amélie wird wirklich eine Wasserratte! Wo sie doch so gern badet.« Er malt sich in Gedanken bestimmt schon die schönsten Törns mit seiner Tochter aus. Er zieht mich enger an sich. »Alte Eltern – vielleicht. Aber junge Träume!«
Zwischen den Gesprächen, unserem Lachen, den Umarmungen und den Küssen wird Andreas still. Durch das Fenster fließt bereits graues Morgenlicht, als er zum ersten Mal davon spricht, wie sehr er Johannes vermisst. »Es macht mich traurig, dass er Amélie nicht kennengelernt hat.«
Ich streichele seine Wange. Mehr als meine Gegenwart kann ich ihm nicht geben – das habe ich durch Lillis Tod gelernt.
Andreas’ Stimme ist leise, er sucht nach Worten, spricht langsam, als taste er sich vorwärts. Es schwingt Trauer in seinen Worten mit, aber noch viel mehr Wärme und Liebe. »Als Johannes starb, begriff ich, dass ich mein Leben verändern musste. Weil es sich von selbst nicht mehr geändert hätte … Mir wurde klar, dass es in jedem Moment vorbei sein konnte. Und dass ich nicht alles gelebt hatte, was ich mir vorgenommen und erhofft hatte.«
»Ich war nicht Teil deiner Hoffnung?«
Ich spüre, wie Andreas langsam den Kopf schüttelt. »Unsere gemeinsame Hoffnung war unerfüllt geblieben. An ihr festzuhalten erschien mir wie eine Sackgasse.«
»Hat Aabenraa daran etwas geändert?«
»Es hat mir gutgetan, mich noch einmal neu zu fühlen. Ich kam mir vor wie ein Ausbrecher. Ungebunden, frei. Ich lernte Frauen kennen, neue Wege.«
»Aber es hat dich auch nach Hamburg gezogen.«
Wir sprechen miteinander wie zu der Zeit, als wir noch nicht voneinander und von uns selbst enttäuscht waren. Mit der Ehrlichkeit unserer frühen Jahre. Als wir noch alles für möglich hielten. Voller Hoffnung und Neugier waren. Wir reden miteinander, wie es uns in den letzten Jahren unserer Ehe nicht mehr gelang. Andreas legt seinen Kopf in den Nacken. »Damals bei dem Kongress zur Rettungsmedizin … Ich hätte gar nicht dort hingemusst. Aber als die Einladung kam, merkte ich, dass ich nach Hamburg wollte … um dich wiederzusehen. Ich hatte das Gefühl, dass da immer noch etwas war. Obwohl wir geschieden waren. Obwohl es Mette gab. Und dann habe ich Amélie gesehen.« Er macht eine Pause. »Das war wie ein Stromschlag. Und als ich sie dann zum ersten Mal auf dem Arm hielt … da waren Gefühle in mir, die ich so noch nie gefühlt hatte.« Er seufzt, sucht nach Worten. »Das war … überwältigend. Sie sieht dir so ähnlich!«
»Mir? Sie hat deine Augen.«
»Und dein Lächeln.«
Wir tauschen einen tiefen Blick. Keiner wird meine Liebe zu Amélie jemals so verstehen wie Andreas. Keiner wird sie so fraglos teilen wie er. Andreas fährt fort: »Aber es geht mir nicht nur um Amélie. Als ich dich wiedersah, erschien mir mein freies, aufregendes Leben in Aabenraa plötzlich schal und leer. Ich wusste ja noch gar nicht, dass eines der Kinder meine Tochter war. Ich hab damals nur dich gesehen. Du warst an jenem Morgen so strahlend und selbstbewusst. Da standest du in deiner Pyjama-Hose und warst so … schön und gleichzeitig so süß. Und begehrenswert. Deswegen bin ich ja auch ausgeflippt, als Simon halbnackt in der Küche auftauchte.«
»Du hast anschließend sogar Sophies Auto fast demoliert!«
Andreas schlägt die Hände vor das Gesicht. »Ja, und das ist mir heute noch peinlich! Aber ich war fassungslos. Ich hatte mich darauf eingerichtet, dich beim Frühstück zu überraschen. Aber auf ein ausgefülltes Leben war ich nicht
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