Kleine Schiffe
gesehnt. Nach Andreas’ Geruch, nach seinen Berührungen, nach seinem Körper, nach seiner Nähe. Ich gestehe mir ein, was ich die letzten Monate krampfhaft verdrängt habe: Damals, als Simon aus dem Haus stürmte, weil er eifersüchtig auf Andreas war – damals habe ich nicht um Simon geweint, sondern um Andreas. Um die verpasste Chance auf unser Leben. Er stand in der Küche, groß, gutaussehend, mein Andreas. Und ich lebte doch eigentlich unseren Traum – mit einem schönen Zuhause, einer Familie, Kindern. Wäre dieser Morgen ein Bild in einer Rätselzeitung gewesen, so wäre Andreas der Fehler gewesen, den man in diesem Bild hätte finden sollen. Und in den Monaten davor, in den Monaten nach unserer Trennung, nach unserer Scheidung, gab es ganz tief in mir ein Sehnen, das Gefühl eines Verlustes, das bittere Eingeständnis, gescheitert zu sein. Ich habe diese Gefühle, die mich mit meiner Vergangenheit verbanden, tief in meinem Innersten verborgen und sie zusammengedrückt wie eine Drehspirale. Doch stets habe ich ihren Druck gespürt. Ich musste sie zusammendrücken, während ich versuchte, mein neues Leben zu bewältigen. Um nachts schlafen zu können. Ich spürte den Druck, selbst wenn ich mit Simon zusammen war. Natürlich nicht in der ersten Zeit unserer Affäre. Da waren die Glückshormone einfach stärker. Doch später. Immer, wenn ich über die Zukunft nachdachte und mir unweigerlich die Vergangenheit einfiel. Das waren keine großen Gedanken, die ich mit Tina besprochen hätte. Sondern federleichte Gefühle, vorbeiflirrende Erinnerungen, flüchtige Stimmungen, die wie niedrig fliegende Vögel Schatten in mein Herz warfen. Andreas war immer da. In meiner Sehnsucht, die mich wie auf Zehenspitzen begleitete, mir manchmal das Atmen schwer machte, sich aber immer wieder von Vernunft und Alltag beiseiteschieben ließ. Und jetzt, in diesem Augenblick, in dem mir Andreas so nahe ist, da ist es, als hätte ich monatelang die Luft angehalten und könnte jetzt zum ersten Mal wieder ausatmen. Die Spirale springt hoch, zieht sich auseinander, zittert, kommt zur Ruhe. Entspannen. Hingabe. Vertrauen. Das ist Andreas. Mein Andreas. Ich habe nie aufgehört, ihn zu lieben. Selbst als wir keinen Kontakt hatten. Andreas war immer da. In meinen Gedanken, unter den Gedanken. Hinter dem Paravent meines täglichen Lebens. In meinem Herzen. In meiner Sehnsucht. In meinem Begehren. Ich schließe die Augen und lasse los.
Hinterher stehen wir gemeinsam unter der Dusche, ich wasche seine Haare, er seift mir den Rücken ab. Schon wieder sind wir von Lust erfüllt. Doch dann hören wir die Kinder rufen: »Mama! Papa!«
Andreas steigt aus der Dusche. Er reicht mir ein Handtuch, öffnet die Tür und antwortet: »Wir kommen!« Er wickelt sich ein Handtuch um die Hüfte und gibt mir einen Kuss. »Ich geh schon.« Und dann lächelt er mich an. Es ist das Lächeln eines sehr glücklichen Menschen.
Und ich lächele zurück. Mit demselben Lächeln.
Am Nachmittag gehen wir mit den Kindern spazieren. Es ist immer noch ein ungewohntes, beglückendes Gefühl, mit Andreas und ihnen als Familie unterwegs zu sein. Danach spielen wir mit den beiden, ich mache Abendbrot. Wir baden sie und bringen sie zu Bett. Eine halbe Stunde später sind wir in meinem Schlafzimmer. »Ich hätte nie gedacht, dass man seinen Ex-Mann so aufregend finden kann«, murmele ich zwischen zwei Küssen.
»Wieso nicht? Ich bin nämlich auch hingerissen von meiner Ex-Frau! Besser gesagt: Meine Ex-Frau müsste ich kennen. Aber du … dich muss ich wohl neu kennenlernen.« Er stützt sich auf den Ellbogen und lächelte mich an. Seine Haare sind zerzaust. Wie immer finde ich, dass er ohne Brille jünger und verletzlicher wirkt.
»Lilli hat mich fast gezwungen, Sport zu treiben«, erzähle ich. »Mittlerweile habe ich jedoch Spaß dran. Glücklicherweise unterstützen mich mein Vater und seine Freunde. Sie übernehmen die Kinder, wenn ich laufe.« Und dann traue ich mich. »Vielleicht können wir ja mal zusammen joggen?«
Andreas sieht mich verblüfft an. »Dass ich diesen Satz mal aus deinem Mund hören würde, hätte ich nie gedacht.«
Ich verdrehe die Augen. »Schon gut. Ich war halt früher nicht so sportlich. Obwohl du ja auch nicht gerade versucht hast, mich dafür zu begeistern.«
»Und jetzt hast du mich gar nicht gebraucht. Du hast dich ganz allein begeistert.« Etwas eifersüchtig klingt das. Er scheint es selbst zu bemerken und streichelt meine Hüfte.
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