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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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man 10–12 Alarme täglich, habe Tiefflieger = Angriffe, höre den Kanonendonner der Front. Und * Frau Stühler hat einen Brief aus Heidelberg: die Stadt sei zum Kriegsgebiet erklärt, Evakuierung noch nicht angeordnet aber erwartet, man sitze mit gepacktem Koffer im Keller ... Sind die Amerikaner im Oberelsaß auf rechtsrheinischem Gebiet? Niemand weiß es. –
    Den 88jährigen Grünbaum, dessen Frau neulich starb, hat die Gestapo gestern abgeholt. Bringt man ihn noch nach Theresienstadt, oder beseitigt man ihn so gleich hier?
    Es faßte mich sehr an, als * Frau Cohn heute erzählte, ihr * Mann habe an seinem letzten gesunden Sonntag mit ihr so gern einen Spaziergang machen wollen, es war so schönes Wetter. Sie habe abgelehnt: Am Sonntag starren die Leute noch mehr als Wochentags – du ärgerst dich bloß. Warte! Er habe bitter geklagt, ich bin gefangen!, u. nun mache sie sich Vorwürfe. Wie oft habe auch ich schon dies Gefühl Gefangen gehabt, u. wohl auch schon notiert.
     

 
    Donnerstag Vorm. 7. XII 44 .
     
    Gestern ein uns beide physisch zerrüttender Tag, geprägt durch zwei Alarme. Vormittags holte ich wieder in sechs Gängen zwei Ctr. Kohle von * Hesse, es fiel meinem Herzen von Anfang an sehr schwer. Gegen Ende der Prozession hörte man fernes Schießen. In den Anlagen neben dem Albertinum befindet sich unter der Straßendecke ein besonderer Luftkeller, einen anderen hat das Albertinum selber. Eine große Menge angestellter Frauen strömte aus dem Albertinum u. nahm an den Anlagetreppen Aufstellung. Sie bummern schon – wir kriegen gleich Alarm, sagte * Frau Hesse. So beendete ich meine Kohlenaffaire sehr gehetzt, zumal ich mich hinterher noch waschen u. ein bißchen umziehen, auch das Ms. in den Ru ins Luftgepäck stauen mußte. Hierbei, kurz nach 12, kam dann die Sirene. Es wurde immerfort stark in der Ferne geschossen, blieb aber beim kleinen Alarm, der schon bald nach ½ 1 abgeblasen wurde. Mein Herz ist dieser Spannung nicht mehr gewachsen, obschon ich geistig ganz ruhig bleibe: ich hatte sehr böse Anginaschmerzen. Der zweite Alarm war peinlicher. Abends ½ 9, * Eva lag mit Herzbeschwerden u. sehr übermüdet, u. noch mehr von ihrem Herumgejagtsein degoutiert, auf dem Sopha; da ging wieder das schwere Schießen an, u. diesmal näher. Es kam auch bald kleiner u. nach einigen Minuten großer Alarm. Der Weg zum Keller führte durch stockfinstere Nacht. Diesmal hatte ich einen richtigen Memento mori-Anfall. 1 Das schwere Schießen in einiger Entfernung hielt an, dann aber, erstaunlich rasch u. unvermittelt, wurde wieder entwarnt. Auch der Gepäckmarsch zurück trug große Beschwerden ein. Heute sind wir beide sehr down. Der ganze zweite Alarm hat etwa ¾ Stunden gedauert. –
    Am Nachmittag gestern bei * Steinitz. Die Novellen um Claudia tragen eine zärtliche Widmung von ihm an * Frau St., seine damalige Braut. Ich fragte ihn, was er an dem Buch so hübsch gefunden habe. Darauf er, er hätte es als junger Mensch gelesen, nicht erst 1930, u. in guter Erinnerung gehalten. Und ich: Aber das Copyright sei von 1930, sonst würde auch ich viel früheres Erscheinungsdatum annehmen, vor dem Grischa, u. ziemlich nahe an den Jahrhundertanfang gerückt. Steinitz entgegnete, das CR-Datum beweise nichts: wenn ein Buch in einen andern Verlag übergehe, erhalte es neues Copyright.
    Aus der Dresdener Ztg der letzten Tage: 1) amtlich: das Seifenstückchen, das in den vergangenen 5 1 / 3 Kriegsjahren 4 Wochen reichen mußte – es reichte aber immer nur wenige Tage – hat jetzt 8 Wochen zu reichen. Entsprechende Terminverlängerung der Wäschemittel. 2)Aufruf der * Reichsreferentin des BDM u. der * Reichsfrauenführerin 2 an die deutschen Frauen u. Mädel zum freiwilligen Eintritt in das Wehrmacht-Helferinnenkorps, zu welchem die schon bestehenden Fraueneinsätze (vor allem das Flak-Helferinnenkorps ) erweitert werden. Die wehrwillige deutsche Frau gehört zum Wehrmachtsgefolge u. trägt Uniform. Jede Helferin ermöglicht die Freistellung (neu??) eines Soldaten. – – Gewiß, die Helferinnen dienen nicht mit der Waffe, aber doch im Feuer wie die Ärzte. Wo bleibt die große Distanz zum Flintenweib? Die Distanz wird ausgefüllt durch die Volkssturmaufrufe u. die Glorifikation der Kinder, die in Aachen mitkämpften. 3) Deutsche Note gegen Terror * de Gaulles . Die Regierung de Gaulle gehe gehe brutal vor gegen deutsche Reichsangehörige u. Franzosen, die gemäß den Weisungen der legalen französischen Regierung

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