Tante Inge haut ab
TANTE INGE HAUT AB
Die Frau am Ende des Bahnsteigs trug einen roten Hut und sah aus wie Tante Inge. Nur dass die nie Hüte und nur im äußersten Notfall ihr Gepäck tragen würde. Christine kniff die Augen zusammen, um sie besser sehen zu können. Die Ähnlichkeit war wirklich verblüffend. Aber es konnte nicht sein. Schließlich stand sie hier in Westerland.
Christine verlor die Frau aus dem Blick und konzentrierte sich auf die Zugtüren. In einer von ihnen würde er auftauchen, Johann, der wunderbarste Mann überhaupt. Sie hatten sich in letzter Zeit viel zu selten gesehen. Aber heute war der erste Tag ihres gemeinsamen Urlaubs. Zwei Wochen Sylt im Mai, es war einfach grandios. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen. Immer mehr Menschen bevölkerten den Bahnsteig, der Zug musste brechend voll gewesen sein. Endlich sah sie ihn. Er stieg aus einem der hinteren Wagen. Christine versuchte, ihm entgegenzulaufen. Die Menschenmassen machten das Vorhaben fast unmöglich, zumal Johann aus irgendeinem Grund stehen geblieben war. Christine harte ihn fast erreicht, als sie sah, dass sich der Strom um ein Hindernis teilte. Mitten auf dem Bahnsteig stand ein voll beladener Gepäck wagen. Die Frau mit dem roten Hut saß darauf und ignorierte die Flüche und irritierten Gesichter derjenigen, die plötzlich ausweichen mussten oder gleich dagegen gerannt waren. Sie lächelte einfach alles weg. Johann rieb sich schmerzverzerrt das Schienbein. Christine harte nur Augen für ihn, kam endlich bei ihm an, fasste nach seiner Schulter, er drehte sich um, sie sah sein Lächeln, fühlte plötzlich seine Hände und Arme, roch sein Rasierwasser und schloss die Augen beim Kuss. Die Welt versank, das Leben war großartig.
Bis sich jemand hinter ihr räusperte. Und eine Stimme, die wie Tante Inge klang, sagte: »Na? Ist das dein neuer Freund?«
Christine zuckte zusammen, löste sich von Johann und sah die Frau auf dem Gepäckwagen an. Es war Tante Inge. Nur mit Hut. Und ohne Onkel Walter. Aber bestens gelaunt und mit sehr viel Gepäck. Sie legte den Kopf schief und musterte den verblüfften Johann.
»Sehen Sie, man sollte immer so freundlich wie möglich pöbeln, man weiß nie, wen man vor sich hat. Ich bin Christines Patentante. Ich halte den Westerländer Bahnhof zwar nicht für den idealen Ort, um sich kennenzulernen, aber bitte. Seid ihr nicht etwas zu alt, um hier öffentlich zu knutschen? Na ja, müsst ihr wissen.« Sie drehte sich wieder zum Gepäckwagen. »Habt ihr eine Ahnung, wie man dieses Monstrum in Bewegung setzt?«
Johann reagierte endlich. »Sie müssen den Griff drücken, sonst bremst er. Ich habe auch nicht gepöbelt, das war ein Schmerzensschrei. Kommen Sie, ich schiebe den Wagen, wo wollen Sie denn hin?«
Christine starrte ihre Tante noch immer an. Sie war dünner geworden, trug einen engen Rock, eine helle Bluse und einen vermutlich teuren Mantel. Die Handtasche passte zum Hut. Inge wirkte irgendwie verändert. Sie nahm die Handtasche vom Wagen.
»Ach, so einfach? Na, dann mal los. Was ist? Kommst du, Christine?«
Christine musste zweimal tief Luft holen, bevor sie sprechen konnte. »Was machst du denn hier? Papa hat gar nicht erzählt, dass du kommst. Sonst hätten wir uns doch gar nicht in der Dachwohnung einquartiert. Das ist viel zu eng, zu dritt. Und wo ist Onkel Walter?«
Tante Inge lächelte ihre Nichte an. »Reg dich nicht auf. Ich schlafe nicht bei euch auf der Ritze, ich habe mir bei Petra eine Ferienwohnung gemietet. Mein Bruder weiß gar nicht, dass ich komme. Und Onkel Walter ist zu Hause, wo sonst. Ich habe aber nicht die geringste Lust, über ihn zu sprechen. Ich denke, es ist an der Zeit, mein Leben zu verändern. Und jetzt kommt, ihr könnt mich zu Petra fahren, diese Taxipreise finde ich sowieso übertrieben.«
Sie rückte den ungewohnten Hut zurecht, sie hatte ihn viel zu tief ins Gesicht gezogen, und ging mit schnellen Schritten zum Ausgang.
Christine sah ihr mit offenem Mund hinterher, während Johann seine Reisetasche schulterte und sich mit dem voll beladenen Gepäckwagen in Bewegung setzte.
Sie hatte Tante Inge vor einem knappen Jahr das letzte Mal gesehen, bei einem Familienfest in Dortmund, als Onkel Walter seinen 65. Geburtstag gefeiert hatte. Das Lokal hieß »Eichenhof«, es gab gemischten Braten mit Gemüseplatte und Kroketten, hinterher Schnaps, und alles war in Ordnung. Bis auf die Tatsache, dass Tante Inge in ihrer Rede sagte, dass sie Walters Rentnerdasein in die Gefahr bringen
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