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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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der grosse Hörsaal in der Lesehalle hinter der Universität ganz voll. Sitzend, übergrosse braune Augen geradeaus ins Leere starrend, kein Blick ins Manuskript, die Rede geht ununterbrochen wie ein Wasserfall ohne sonderliche Betonung sehr schnell. Nur das ist in meinem Gedächtnis, die nicht sehenden Augen, der schnelle Wasserfall: keine Ahnung, was oder auch nur worüber er gesprochen hat ... In seinem Fontaneabschnitt eine merkwürdig blinde Bemerkung über die fehlenden landschaftlichen Reize Berlins und seiner Umgebung. Das erschien 1900! Aber damals malte doch schon * Leistikow, 3 und wenn Meyer selber nicht sah oder fühlte, so war er doch modern und musste also von Leistikow wissen. Es ist sehr merkwürdig, wie zumeist in der Landschaft nur das gesehen wird, was gerade modern ist, und wie cf meinen * Rousseau, eine Sache abgelatscht sein muss, um aktuell und modern zu werden. Was mich anlangt, so ist es seltsam, dass ich bei meinem Minimum von Naturgefühl für die märkische Landschaft von früh auf etwas übrig gehabt habe.
    Vor ein paar Wochen sahen wir einen Sherlock Holmesfilm. 4 Ich bin nicht imstande rasch abrollende verwickelte Situationen zu erfassen, und ganz genau weiss ich deshalb bei solchen Kriminalgeschichten mit Listen, Kämpfen, Überraschungen nie w[as] los ist. Aber an dieser Grauen Dame gefiel mir die Berlinische Burschikosität und unpathetische Selbstironie, mit der * Hermann Speelmans 5 den Sherlock spielte. – Wir kamen durch einen Zufall hinein, wir hatten eigentlich die Schauspielerin * Zarah Leander 6 sehen wollen und keinen Platz gefunden. Das war vor der katastrophalen Bockreparatur, wir waren noch nicht so im allertiefsten Geldelend. Danach haben wir uns den Luxus eines Kinobesuchs nicht mehr gestatten können.
    Darüber ist Ostersonntag geworden. Gestern Abend, * Eva schlief[,] schrieb ich noch bis nach 12 einen langen Brief an den kleinen * Hirsch, andere Correspondenz war vorher erledigt worden. Nun soll heute abgewaschen, vielleicht ein bisschen gefahren werden (Wetter sehr kalt, stürmisch, regendrohend); dann bleibt bloss noch Aufräumen und Umgruppieren der Manuscripte und Notizen und dann bin ich klar zum Gefecht und kann in Buch II Rousseauismus vor * Rousseau eintauchen. Möglichst tief und an nichts anderes denken!
     

 
    Ostermontag 29. III. Nachm.
    Recht jämmerliche Ostern bei kaltem Wetter u. mehrfachem Schneegestöber. Gestern Vormittag großer Abwasch. Mitten hinein * Lange – Verzögerung. Nach Tisch, der Kaffee wartete, die jungen * * Köhlers, letzte Getreue. (Sie behaupten, es wackle überall, und dieses Jahr – aber wie oft habe ich das schon gehört, der Glaube ist hin. Dann wollten wir ein bisschen ausfahren. Gleich im Ausfahren brach eine Schraube, die die Stoßstange hält, derart, daß der abgebrochene Teil stecken blieb. Bindfaden, zurück in die Garage, auch heute festgelegt, morgen zum Schmied. * Eva, sehr elend, legte sich früh hin, lag auch heute lange. – Ich lese viel vor, * Robert Hichens Der Garten Allahs. 7 Mit einigem Widerstreben. Zuviel Symbolismus, Religion, aesthetische Zerfaserung, lieber Gott und * André Gide. 8 Aber doch auch wieder feine Schilderungen und Oasen des Einfachen u. sogar Humoristischen. – Erster Beginn des Zurechtlegens der Notizen für Bd II. – Allzuviel Küchenarbeit.
     

 
    15. April, Donnerstag.
    * Annemarie Köhler wird mit * Dr. Dressel zusammen (dem sie ein wenig hörig ist, und der sie ein wenig ausbeutet) eine Privatklinik in Pirna aufmachen. Beide sind etwa ein Dutzend Jahre in Heidenau Assistenzärzte; da ergeben sich Reibungen mit dem Chef von selber, und jetzt ist alles politisch verschärft; der Chef duckt sich überängstlich, Dressel übt passive, Annemarie active Resistenz: sie ist im Käseblättchen des Orts angerempelt worden (Wer Heil Hitler sagt, wird von Fräulein Doctor schlecht behandelt), es hat Scandal gegeben. Für die Klinik wird u.a. ein intelligentes, sozusagen gehobenes Mädchen gebraucht, * Eva schlug unsere zweite Wendin, die * Anna Dürrlich 1 vor, die j[etzt] in der [S]ocietät, einem katholischen Gesellschaftshaus in Bautzen Dienst tut, und die uns im vorigen Jahr hier besuchte. Gestern Morgen schrieb Annemarie, der Vorschlag sei ihr sehr sympathisch; am Vormittag machten w[i]r noch Besorgungen in der Stadt, danach im plötzlichen Entschluss, liessen wir den Wagen vor dem Thor stehen und fuhren nach dem Kaffee kurz vor vier nach Bautzen. Das war unsere erste längere

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