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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Spaziergang, aber mit Herzbeschwerden – allein auf dem Gemeindeamt Dölzschen. Daß man mir die Schleusenkosten (340 M) in Raten zerlegt. 6 Raten bewilligt. Dort oben hat man den sozialdem. Bürgermeister beurlaubt. Mich empfingen der Commissar (Hüne, Germane mit Spitzbart) u. der kugelrunde Bauinspector in S.A. Uniformen. Das erstemal daß ich mit solchen Leuten verhandelte. Beide sehr höflich, der Commissar ein bißchen zurückhaltend, sichtlich auf Würde ängstlich bedacht, der dicke ein gemütlichster Sachse, gleich über Hochschule u. P. I. mit mir plaudernd – ich muß noch einmal betonen: beide ungemein höflich. Aber hier wurde mir zum erstenmal ad oculos demonstriert, daß wir nun wirklich ganz der Parteidictatur, dem dritten Reich ausgeliefert sind, daß die Partei aus ihrer absoluten Herrschaft gar kein Hehl mehr macht.
    Und jeden Tag neue Gräßlichkeiten. Ein jüdischer Anwalt in Chemnitz entführt u. erschossen. Provo Provokateure in SA = Uniformen, gemeine Verbrecher. Ausführungsbestimmungen zum Beamtengesetz. Jude, wo ein Teil der Großeltern jüdisch. Im Zweifelsfall entscheidet der Sachverständige für Rassenforschung im Reichsinnenministerium. Jeder nicht national gesinnte Arbeiter u. Angestellte darf in allen Betrieben entlassen, muß durch einen national gesinnten ersetzt werden. Die n.s. Betriebszellen sind zu hören. Usw. usw. – Im Augenblick bin ich noch in Sicherheit. Aber wie einer am Galgen in Sicherheit ist, der den Strick um den Hals hat. In jedem Augenblick kann ein neues Gesetz, den Tritt auf dem ich stehe, fortstoßen, u. dann hänge ich.
    – Ich höre immer auf Symptome. Eine grollende Rede * Hugenbergs, Mandatsniederlegung des deutschnationalen Fractionsführers * Oberfohren, 2 Reibungen zwischen SA u. Stahlhelm – – aber was ist das alles? Die Macht, eine ungeheure Macht ist in den Händen der NS. Eine halbe Million Bewaffneter, alle Staatsämter u. -Mittel, Presse u. Rundfunk, die Stimmung der besoffen gemachten Millionen. Ich sehe nicht, von wo Rettung komen soll.
    Immer größere Verstricktheit in die Bausache, die mir den letzten Pfennig abpreßt u. doch nicht vorwärtskomt, immer drückendere Verzweiflung.
    Die Arbeit schleicht.
    Gestern Abend im Capitol. Tonfilm u. Vortrag * Schomburgk 1 : Das letzte Paradies, Expedition in Afrika, im Auto durch Wildnis; Tiere, Neger – sehr hübsch, oft sehr interessant, insbesondere die primitiven Melodieen; im Ganzen doch ermüdend.
    Das spanische Unterrichtsministerium hat * Einstein 2 ein Ordinariat an einer spanischen Universität angeboten, er hat akzeptiert. Dies ist der merkwürdigste Witz der Weltgeschichte. Deutschland stellt limpieza de la sangre her – Spanien beruft den deutschen Juden.
     

 
    20. April Donnerstag Abend .
    Ist es die Suggestion der ungeheuren Propaganda – Film, Radio, Zeitungen, Flaggen, immer neue Feste (heute der Volksfeiertag, * Adolfs des Führers Geburtstag)? Oder ist es die zitternde Sklavenangst ringsum? Ich glaube jetzt fast, daß ich das Ende dieser Tyrannei nicht mehr erlebe. Und ich bin fast schon an den Zustand der Rechtlosigkeit gewöhnt. Ich bin eben nicht Deutscher u. Arier, sondern Jude u. muß dankbar sein, wenn man mich am Leben läßt. – Genial verstehen sie sich auf die Reklame. Wir sahen vorgestern (u. hörten) im Film, wie Hitler den großen Appell abhält: Die Masse der SA Leute vor ihm, das halbe Dutzend Mikrophone vor seinem Pult, das seine Worte an 600 000 SA Leute im ganzen dritten Reich weitergibt – man sieht seine Allmacht u. duckt sich. Und immer das * Horst-Wessellied. Und alles kuscht. Wie jämmerlich der Ärztecongreß in Wiesbaden. Dank für Hitler – wenn auch die Rassefrage noch nicht geklärt, wenn auch die fremden * Wassermann, * Ehrlich, * Neisser 3 uns Bedeutendes gegeben – wir danken Hitler, er rettet Deutschland! Und so die andern auch.
     

 
    25. April. Dienstag .
    Da Telephonieren unsicher, u. da alles in Not und Sorge, so haben wir ständig nervenzerrüttenden Vormittags- oder Nachmittagsbesuch. * Frau Dember, * Frau Wieghardt, heute, hergestellt aber von Lähmung krumm gezogen, * Wengler. Immer die gleichen Gespräche, die gleiche Verzweiflung, das gleiche Schwanken: die Katastrophe sei nah, u. es werde noch lange so gehen, es gebe keine Rettung, imer der gleiche Ekel. * Eva ist mit ihren Nerven völlig zu Ende. Der politische Abscheu u. die unheilvolle Wirkung auf unsern Credit gehen bei ihr zusamen. Kein Morgen ohne heftigstes Weinen,

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