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Klippen

Klippen

Titel: Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Adam
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Zehenspitzen und fing mit der Zungenspitze winzige Wasserperlen auf Oder sie watete, das Kleid bis über die Knie hochgezogen, ins Meer, wie ich es bei ihr in ihrem letzten Sommer so oft gesehen hatte, schon bald war der Stoff durchnässt, sie leckte das Salz ab, bevor sie ihn wieder herunterließ, und drang langsam tiefer ins Wasser vor, bis es nach und nach Schultern, Gesicht und Haare verschluckte und sie gänzlich darin verschwand. Oder sie lag in der Bretagne bei steigender Flut am Rand des Wassers auf einem Sandstrand, reglos, wie eine verzückte Heilige lächelnd und die Augen auf den von Vögeln bevölkerten Himmel gerichtet, und ließ sich überspülen, das Salzwasser bedeckte sie ganz langsam, überschwemmte ihre Augen, ihre Lungen. Ihre Hände gruben sich in den Boden, Sandkörner drangen in sämtliche Ritzen und Spalten und zerkratzten die Augen wie ein Diamant das Glas, Körper und Gesicht wurden vom Salz abgeschliffen, abgeschmirgelt, bis auf die Knochen abgeschabt.
    Aber meine Mutter begnügte sich nicht damit, nachts unter meinen Augenlidern zu leben oder zu sterben, indem sie im Wasser oder im Sand versank. Sie erschien mir auch immer wieder, kaum erkennbar, aber unbestreitbar, blitzartig als kleines, bleiches, luftiges Gespenst, wenn ich die Küche, das Wohnzimmer oder ihr Zimmer betrat. Ich glaubte dann wirklich, sie zu sehen. Wenn ich blinzelte, verschwand sie, und zurück blieb lediglich eine quälende Erinnerung, die grausame Ernüchterung, die auf ein Trugbild folgt. Manchmal drang auch von draußen klar und deutlich ihre Stimme zu mir, die mich rief, mir etwas ins Ohr raunte, oder ich hörte sie weinen. Heute denke ich, dass ich damals in einer anderen Welt lebte. Ich wohnte darin ohne besonderen Schmerz, ohne Leid, fast ohne Schreie oder Schluchzer, die zum Erbrechen fuhren, fast ohne mich auf dem Boden zu wälzen, meinen Kopf gegen die Küchenschränke zu stoßen, mit der Faust auf die Zementmauern einzuhämmern. In der Benommenheit, in die mich die vom Hausarzt unserer Familie verschriebenen Beruhigungsmittel versetzten, wohnte ich in einer Wattewelt, in einem schummrigen Teil meines Gehirns, ganz und gar außerhalb des wahren Lebens, wie in einem anderen Stockwerk, einem anderen Zimmer, in einer fortlaufenden Vergangenheit, in der meine Mutter nicht tot war.
     
     
     
     
     
     
    Die Luft im warmen Zimmer ist erfüllt vom Duft meiner Tochter, vom Geruch ihrer Mutter. Ich lege mich neben sie. Chloé grunzt, und ich schnuppere an ihrem Haar, sie riecht nach Seife, nach Eau de Cassis, nach Milch. Ich küsse ihren Hals, ihre winzigen Finger, ihre Schulter. Sie schlägt kurz die Augen auf murmelt »Papa« und schläft sofort wieder ein.
    Zwei Jahre sind seit ihrer Geburt vergangen, so lange ist sie nun schon bei mir und beschützt mich. Zwei Jahre, und oft kommt es mir so vor, als hätte davor nichts existiert, nichts stattgefunden, als würde sich mein Gedächtnis von Neuem verschließen und die vorangegangenen dreißig Jahre an einen Ort tragen, der meinem Gehirn verborgen ist. An einen Ort, der von jetzt an bedeutungslos ist.
    Ihr Gesicht ist weiß im Lichtschein, der ins Zimmer fällt. Am Strand reihen sich fahle Straßenlaternen, einbetoniert in eine von Restaurants, Bars und Spielgeräten für Kinder gesäumte Promenade. Ich stehe wieder auf. Manchmal sage ich mir, dass die Vergangenheit nur Einbildung ist, dass man einen Schlussstrich darunterziehen, auf Ruinen bauen und ohne Fundament leben kann. Manchmal denke ich aber auch das Gegenteil.
    Von Chloés Geburt ist mir das präzise Gefühl in Erinnerung, wie Claire meine Hände drückte. Ihre Finger verdrehten mir die Knöchel, krallten sich in sie, und ich fühlte ihre Angst. Die Angst vor Chloés Geburt, dann die Angst, man könnte sie uns im selben Zug wieder wegnehmen. Ich glaube, das habe ich seit jeher, von Anfang an, mit Claire gemein. Diese hellsichtige, schreckliche Furcht vor allem, was dahingeht. Vor allem, was schon bei der Geburt zu sterben beginnt oder zu verschwinden droht. Danach ruhte Claire sich aus, und Chloé war ein unendlich zerbrechliches und violettes Etwas, ab und zu schlug sie die Augen auf, und drei Tage lang spuckten ihre Lungen Schleim aus, gelbe, klebrige Klümpchen. Schläuche verschwanden in den winzigen Adern ihrer geröteten Ärmchen, andere verliefen unter ihrer Nase und versorgten sie mit Sauerstoff. Ich weiß noch, wie ich angesichts der Panik des Krankenhauspersonals in den allerersten Minuten

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