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Klippen

Klippen

Titel: Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Adam
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ihres Lebens, angesichts der Feststellung, dass sie nicht oder kaum atmete, dass sie sich quälte und man ihr unsanft Oberkörper und Bauch massierte, dass ungeduldige Hände sich auf ihre runzlige, noch verschmierte Haut drückten, ich weiß noch, wie ich dachte: »Nein, das dürft ihr nicht, das dürft ihr ihr nicht antun.« Dieser Gedanke war wie ein kopfloses Gebet. Ein Gebet für Claire, nicht für mich oder Chloé. Noch heute frage ich mich, wie dieses Flehen gemeint war und wem es eigentlich galt.
    Chloé grummelt leise, dreht den Kopf von links nach rechts und dämmert wieder weg. Ich glaube, die Tatsache, dass wir sie bei der Geburt fast verloren hätten, hat mein Verhältnis zu ihr entscheidend geprägt, und deshalb ertrage ich es nicht, sie leiden oder einfach nur traurig oder unzufrieden zu sehen. Bestimmt spielt meine eigene Lebensgeschichte mit hinein. Bestimmt. Leise schließe ich das Fenster. Unter dem Balkon küsst sich ein Pärchen. Der Mann blickt kurz auf, und als er mich bemerkt, zwinkert er mir belustigt zu. Ich schlüpfe wieder unter die Decke, und die kalte Luft beißt mir ins Gesicht. Am Strand schließen die letzten Restaurants, die Leuchtreklamen erlöschen. Was bleibt, ist das Meer, das Klatschen der Wellen, der dunkle Himmel.
     
     
     
     
     
     
    Ich war elf, aber wenn ich an die Beerdigung, an das Wenige, was mir davon im Gedächtnis geblieben ist, zurückdenke, kommt es mir vor, als wäre ich sechs oder sieben gewesen. Ich erinnere mich an das Fehlen jeglicher Verstörung, jeglichen Schmerzes, an eine unglaubliche Verständnislosigkeit. Als spielte sich vor meinen Augen ein seltsames Spektakel, ein absurdes Theater ab, an dem sich neben meinem Vater auch Onkel und Tanten, die ich seitdem nicht wiedergesehen habe, und mein Bruder, kerzengerade, mit weit aufgerissenen Augen und stumm, beteiligten. Ich habe nie daran geglaubt, dass sich in dem länglichen Sarg aus lackiertem Holz je der verrenkte Körper meiner Mutter befunden hat. Ich glaube es auch heute nicht. Wenn ich an die sechs Fuß in die Erde hinabgesenkte rechteckige Kiste denke, höre ich klar und deutlich das trockene, dumpfe Geräusch der Schaufeln voll Sand, unter dem man sie verschwinden ließ, aber ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass sich nichts darin befindet, allenfalls eine Wachspuppe oder, auf mysteriöse Weise, die Jahre, die man mir gestohlen hat.
    Das sage ich mir oft: dass die ersten Jahre meines Lebens nicht für immer verloren, sondern nur unter kiloweise brauner Erde verschüttet sind, irgendwo auf dem Boden eines Lochs, eingezwängt zwischen vier Holzbrettern, unerreichbar und doch leicht auszugraben. Der Versuch, mein verschlossenes Gedächtnis aufzubrechen, erscheint mir deshalb wie eine unzulässige Schändung.
    Meine Mutter wurde an einem grellen Vormittag bei sengender Hitze beerdigt. Der Trauergottesdienst fand in einer hässlichen würfelförmigen, am Schnittpunkt zweier Straßen zwischen einer Apotheke und einem Immobilienbüro und gleich neben einem Reklameschild von Saint-Maclou stehenden Kirche statt. Ich erinnere mich an meine schwitzenden, rotgesichtigen Onkel in ihren engen schwarzen Anzügen und gewienerten Schuhen, an meine Tanten mit dem verlaufenen Make-up. Schon damals ahnte ich, dass sie immer versuchen würden, uns aus dem Weg zu gehen, um bloß nicht mitzukriegen, wie es uns dreien ging, wie wir mit dem Selbstmord der Mutter, mit der zerschmetterten Ehefrau zurechtkamen. Als könnte unser Unglück sie anstecken, auf sie übergreifen und Schwermut, Wahnsinn oder gar Tod säen. Damals begriff ich beim Anblick ihrer groben, maskenhaften Gesichter am Rand der Staatsstraße auch, dass sie Maman mit ihrem wunderlichen Verhalten und ihrer flatterhaften Art immer gehasst haben.
    Aus einem vorbeifahrenden Auto betrachtet, dürften wir trotz allem wie eine trauernde Familie ausgesehen haben, wie wir da gegenüber vom Kino, in dem Who’s that girl? lief, im Kirchenportal beisammen standen. Die Sargträger bewegten sich ehrerbietig mit angemessen betrübtem Lächeln, Antoine konnte sich kaum auf den Beinen halten, die anderen trugen eine den Umständen entsprechende Miene zur Schau, mein Vater biss die Zähne aufeinander. Ich weiß nicht, was ihn plötzlich trieb, seinen Bruder auf dem Betonvorplatz zu schlagen, dass diesem das Blut aus der Nase spritzte. Ich erinnere mich nur an das Geschrei des Geschlagenen, meiner Tanten und eines älteren Cousins, der ihn festhielt, an sein hochrotes,

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