Klippen
wütendes Gesicht zwei Fingerbreit neben dem schwarzen Leichenwagen mit den abgedunkelten Scheiben. An den Onkel, der, von seiner entrüsteten kleinen Familie gefolgt, zu seinem Renault 18 ging. Wir betraten die Kirche, und während wir schweigend auf den unbequemen Bänken saßen und auf unsere eiskalten Hände bliesen, warteten wir, dass der Sarg zu den Klängen einer piepsigen Orgel hereingetragen wurde.
An mir tropfte alles ab wie Regen an einer Fensterscheibe. Ich war nicht dort, wusste nicht, wovon die Rede war, fragte mich, wo meine Mutter sein mochte, was diese längliche Kiste aus lackiertem Holz enthielt, wann sie wiederkam, wann das alles hier vorbei war, dieser böse Traum, dieser üble Scherz. Ich saß in der vordersten Reihe und starrte die blauroten Kirchenfenster mit den abstrakten Motiven an. Antoine hielt meine Hand. Er hörte dem Pfarrer, einem jungen Mann mit freundlichem Blick, aufmerksam zu, doch an meine Ohren drangen die Worte, die seine Lippen formten, nicht. Ich fixierte meinen Bruder, seine Augen glänzten, Tränen sammelten sich darin, ohne herauszuquellen, bildeten einen durchsichtigen, gallertartigen Film, eine Linse aus Salzwasser. Und plötzlich sackte er schlaff wie ein Lumpen zusammen. Sein Körper hatte sich im Innern lautlos aufgelöst und nur eine dünne Hülle ohne stützendes Gerüst zurückgelassen. Von seinem Gewicht mitgerissen, stürzte auch ich. Der Pfarrer unterbrach seine Ansprache.
Eine Welle des Raunens schluckte mich. Die Leute sahen uns an, ich lag verständnislos am Boden, mein Bruder mit geschlossenen Augen bewusstlos neben mir. Mein Vater beugte sich über uns, und noch heute sehe ich deutlich den Ausdruck auf seinem Gesicht, sehe ich die Wut, die daraus sprach, als hätten wir uns einen dummen Streich erlaubt. Er schüttelte meinen Bruder, versetzte ihm zwei Ohrfeigen, aber Antoine blieb reglos im Mittelgang liegen, zerbrechlich und anmutig, den weichen Kopf auf dem eiskalten Boden. Hilfe war schnell zur Stelle, der Pfarrer hielt meine Hand und versicherte mir, es sei nicht weiter schlimm, alles werde gut. Kurz vor dem Hinausgehen bat mein Vater ihn, mit der Zeremonie fortzufahren. Er flüsterte einer seiner Schwestern, der er mich anvertraute, ein paar Worte ins Ohr, und gleich darauf sah ich, wie er auf die Straße, ins helle Tageslicht hinaustrat, in den Armen den leblosen Körper meines Bruders. Ich blieb allein inmitten einer Familie zurück, die für mich aus lauter Fremden bestand, meine Hand eingezwängt in der feuchten, schmierigen Hand einer dickleibigen Tante.
Die Fahrt in ihrem Auto zum Friedhof verlief vollkommen geräuschlos, und in meinem Kopf vermischt sich diese Stille mit der, die morgens alles erstarren ließ, als ich noch ein kleiner Junge war und meine Mutter bedrückt durchs Haus irrte. Diese beiden Arten von Stille verschmelzen zu einem herben, kalten Geräusch, das mir, sobald es einsetzt, in Kehle und Augen brennt, ein Geräusch wie von einem Motor oder von totem Leben, von verlassenem Reihenhaus, von stillstehender Zeit, ein Geräusch, das mich im Auto, oder wo auch immer ich gerade bin, veranlasst, Musik einzuschalten, um es zu übertönen, und nachts aus dem Haus zu gehen, um mich am Pfeifen des Windes, am Tosen des Meeres, am Lärmen der Vögel oder am Rascheln der Blätter zu berauschen.
Antoine und mein Vater kamen nicht wieder. Die Beerdigung fand ohne sie statt. Ich sah allein, wie die Kiste in dem makabren Loch verschwand, bemerkte allein die Gleichgültigkeit meiner Onkel, Tanten und Cousins, sah allein, wie die Rose auf den Sargdeckel gelegt wurde, wie ihn die ersten Schaufeln voll Erde nach und nach bedeckten, übergab mich allein an einem Baum, ohne Schluchzer ohne Tränen ohne Schrei, wie wenn man sich endlos ausleert, das Leben aus einem herausfließt, einen verlässt und in einen Winter ohne Ende versetzt.
Danach wurde ich daheim abgesetzt. Das Haus war leer und in Dunkelheit getaucht, zumindest sehe ich es so vor mir, obwohl es ein strahlender Tag war und eine stechende Sonne den Himmel aus Glaspapier durchdrang. Wie konnte meine Tante mich allein lassen? Ich war elf Jahre alt, und wir hatten gerade meine Mutter beerdigt. Ich weiß noch, dass es mir plötzlich so vorkam, als wäre ich winzig klein und würde in ein fremdes Haus einbrechen. Ich tappte auf Zehenspitzen voran, tastete mich wie in vollkommener Finsternis an den Wänden entlang und hielt mich an den Möbeln fest. Im Wohnzimmer legte
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