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Die Frau im Rueckspiegel

Die Frau im Rueckspiegel

Titel: Die Frau im Rueckspiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Arden
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VOR SECHS MONATEN
    » R ebeccas Blick wanderte über die zahlreichen Trauergäste, die im Nieselregen unter ihren aufgespannten Regenschirmen standen und den Worten des Pfarrers lauschten. Sie fühlte keinen Schmerz. Der Mann im Talar würdigte den Verstorbenen als einen weitblickenden, verantwortungsbewußten, großzügigen Firmenchef, Freund und Vater. Rebecca berührten die Worte kaum. Bei dem Wort »Vater« jedoch bildeten sich mehrere steile Fältchen auf ihrer Stirn, direkt über der Nasenwurzel, was das Ergebnis zweier unmutig zusammengezogener Augenbrauen war.
    Ja, Rainer Reklin, der Mann, der hier zu Grabe getragen wurde, war ihr Vater. Doch war es ewig her, daß sie ein Gefühl der Liebe mit diesem Mann verband. Rebecca wußte, hinter der glänzenden Fassade ihres Vaters hatte sich ein zynischer, kaltschnäuziger Egoist verborgen gehalten, der jede Verantwortung für den Freitod seiner Frau von sich wies. In zwei Wochen würde es sechzehn Jahre her sein, daß sie ihre Mutter leblos im Schlafzimmer auf dem Bett fand. Die leere Packung Schlaftabletten neben sich auf dem Nachttisch.
    Jede Hilfe kam zu spät.
    Rebecca erinnerte sich an eine Zeit, da Rainer Reklin wirklich noch ein Vater für sie war. Mit vier Jahren träumte sie einmal, daß sie in ihrem Zimmer saß und weinte. Weil ihr Spielzeug vergessen in einem der riesigen Stahlcontainer lag, die ihr der Vater am Tag zuvor im Hafen gezeigt hatte. Sie erzählte ihrem Vater den Traum. Der erklärte ihr, daß alle Spielzeuge an ihrem Bestimmungsort ankämen. Überhaupt alles, was seine Frachter transportierten.
    Seit diesem Tag war Rebecca fasziniert von den riesigen Containerschiffen, die aus der Ferne dennoch aussahen wie Spielzeuge, auf denen sich winzige Bausteine stapelten. Sie konnte damals nicht begreifen, daß jeder dieser Bausteine exakt sein Ziel erreichte, denn von Logistik verstand sie noch nichts. Und weil ihr Vater in der Lage war, dafür zu sorgen, daß dieses unbegreifliche Wunder jeden Tag geschah, bewunderte sie ihn.
    Rebecca war fünf Jahre, als ihr Vater ein Kindermädchen engagierte. »Mutti ist krank«, hieß es. »Es strengt sie zu sehr an, immer auf dich aufzupassen. Und Vati muß arbeiten.«
    Er nahm Rebecca immer seltener mit. Dabei schaute sie doch so gern durch die großen Glasscheiben seines Büros in den Hafen. Stundenlang konnte sie stillsitzen und schauen. Und sie liebte es, Bilder von diesen großen Schiffen zu malen, die sie dem Vater schenkte.
    Rebecca fragte die Mutter, warum ihr Vater sie nicht mehr mitnehme. Die Mutter erklärte der Tochter, ihr Vater habe große Verantwortung für andere und wenig Zeit. Und warum nenne er sie nicht mehr »sein Mädchen«, sondern einfach nur noch Rebecca? Und warum klinge er gar nicht mehr so fröhlich wie sonst? Er habe viel Arbeit, lautete die Antwort.
    Dafür hatte die kleine Rebecca eine prima Lösung. »Ich kann dir ja helfen«, bot sie dem Vater strahlend an. Und da hörte sie es zum ersten Mal. ». . . nur ein Mädchen.« Im Unterton Enttäuschung.
    Ihre Mutter kränkelte mehr und mehr. Als Zehnjährige vernahm Rebecca zum ersten Mal das Wort »Depressionen«, schlug es im Lexikon nach – und erschrak. Genauso wie über den ersten lauten Streit ihrer Eltern. Erst Jahre später wurde ihr klar, daß es diese Streits auch vorher gegeben hatte, nur waren sie nicht offen vor ihr ausgetragen worden. Noch ein paar Jahre später verstand sie auch, wie die Logistik der Schiffe funktionierte. Und daß ihr Vater nicht nur wegen der vielen Arbeit abends oft wegging.
    Die Mutter weinte immer öfter, die barschen Rückweisungen des Vaters wurden immer lauter. Es endete mit einer Überdosis Schlaftabletten.
    Für Rainer Reklin schien mit der Beerdigung seiner Frau diese bereits vergessen. Rebecca stand mit ihrer Trauer allein da. Ihre Leistungen im Studium rasselten in den Keller. Für ihren Vater nur ein weiterer Beweis dafür, daß seine Tochter nicht fähig sein würde, in seine Fußstapfen zu treten, die des großen Reedereibesitzers. Rebecca hatte immer das Gefühl, daß er sie nur in seine Welt, die Reederei, eingeführt hatte, um ihr genau das zu beweisen. Dennoch entsprach sie seinem Wunsch, studierte BWL, obwohl sie sich viel mehr für Schiffsbau interessierte. Rebecca hatte sich ihre kindliche Faszination der übers Meer fahrenden Kolosse bewahrt. Sie las in ihrer Freizeit jedes Buch über Schiffbau, dessen sie habhaft werden konnte. Sie wollte ihrem Vater beweisen, daß er sich

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