Was macht der Fisch in meinem Ohr
PROLOG
Während meiner Studienzeit machte unter den Kommilitonen an meinem College eine Geschichte die Runde: Ein Dozent namens Harris habe es abgelehnt, Übersetzungskurse zu unterrichten, mit der Begründung, er wisse nicht, was »Übersetzen« ist.
Harris hatte den Fakultätsrat aufgefordert, ihm zu sagen, was er unterrichten solle. Aber das weiß doch jeder!, hieß es. Übersetzen werde hier seit Jahrhunderten gelehrt. Aber in einer akademischen Tradition zu stehen und zu wissen, was man tut, ist zweierlei. Harris jedenfalls sah sich außerstande, Unterricht in einem Fach zu erteilen, dessen Gegenstand seine Vorgesetzten nicht bezeichnen konnten.
Wir fanden das sehr amüsant: Ein junger Dozent hatte eine philosophisch harte Nuss dazu verwendet, sich eine Aufgabe vom Halse zu schaffen und die Altvorderen auflaufen lassen.
Trotz des vertrackten Rätsels, das Roy Harris mir zu Beginn meines Erwachsenenlebens aufgab, unterrichte ich tapfer seit mehreren Jahrzehnten Übersetzen. Ich habe selbst viele Bücher übersetzt und bin Leiter eines Studienprogramms »Übersetzen und interkulturelle Kommunikation« geworden. Es ist also an der Zeit, dass ich versuche, eine Antwort auf Roy Harris’ Frage zu geben.
Mit Antworten tut man sich allerdings leichter, wenn die Frage gut gestellt ist. »Was ist …?« taugt als Einstieg meist eher wenig. In der Regel führt das über kurz oder lang nur zu Haarspaltereien über die Bedeutung von Wörtern.
Ohne Belang ist die Bedeutung des Worts »übersetzen« aber natürlich nicht, und ich habe diesem Thema ein ganzes Kapitel des Buchs gewidmet. Sie ist jedoch nicht so wichtig wie viele andere Fragen, die sich unabhängig von dem Wort stellen, das wir verwenden.
Etwa: Was können wir vom Übersetzen lernen? Was lehrt es uns?
Gleich danach kommen einem weitere Fragen in den Sinn: Was wissen wir eigentlich über das Übersetzen? Was müssen wir über das Übersetzen noch herausfinden?
Oder: Was ist gemeint, wenn jemand seine Ansichten über das Übersetzen darlegt? Was sind die Maßstäbe, an denen sich gutes Übersetzen messen lässt? Ist Übersetzen im Prinzip immer ein und dasselbe, oder gehen verschiedene Arten von Übersetzen auch mit verschiedenen geistigen Tätigkeiten einher? Ist Übersetzen etwas von Grund auf anderes als Schreiben oder Sprechen, oder ist Ersteres nur ein Aspekt des noch ungelösten Rätsels, wie wir überhaupt herausfinden, was jemand anders meint?
Aus diesem Buch erfahren Sie nicht, wie Sie übersetzen sollen oder wie ich übersetze. Zu diesem Thema gibt es bereits jede Menge gute Bücher; es besteht kein Anlass, ein geringeres auf den Stapel zu legen.
Hier finden Sie stattdessen Geschichten und Erörterungen zu bestimmten Fragen, mit denen ich umkreise, was mir das eigentliche Problem zu sein scheint – zu verstehen, was Übersetzen macht .
Ich habe mich bemüht, dem Thema in seiner ganzen Vielfalt gerecht zu werden, und untersuche die Rolle des Übersetzens in kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen verschiedenster Art. Zu diesem Zweck habe ich gelehrte Bücher und Artikel zurate gezogen und viele belesene Freunde ausgefragt, ich greife aber auch auf persönliche Erfahrungen zurück.
Da ich in England aufgewachsen bin und in den Vereinigten Staaten lebe, ist dieses Buch zweifelsfrei aus der Perspektive der englischsprachigen Welt geschrieben, und das lässt sich auch in der deutschen Ausgabe nicht verleugnen. Gleichwohl hat Silvia Morawetz einige meiner Beispiele für Übersetzungen ins Englische an die Bedürfnisse deutschsprachiger Leser angepasst. Außerdem haben wir einige Abschnitte überarbeitet, damit das erstaunliche Abenteuer des Übersetzens für Sie ebenso zugänglich wird wie für die Leser des Originals.
Englisch ist heute die weltweit dominierende Verkehrssprache. Darum tun sich englische Muttersprachler, die mit dem Übersetzen nicht in Berührung kommen, schwerer als die meisten anderen zu verstehen, was Übersetzen ist. Das ist der hauptsächliche Grund, weswegen ich darüber schreibe. Ich hoffe aber, auch deutschen Lesern einen Eindruck von den Problemen zu vermitteln, vor die englische Muttersprachler durch die Rolle ihres Idioms gestellt sind.
Was Übersetzen in der Vergangenheit geleistet hat und was es heute leistet, was Menschen darüber gesagt haben und warum, ob Übersetzen bloß immer ein und dasselbe ist oder aber vieles – wenn man diesen Fragen nachgeht, kommt man herum, zu den Sumerern, nach Brüssel
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