Kloster Northanger
Leihbüchereien eine weite Verbreitung finden; in ihnen bricht die Phantasie gerade in einer aufklärerisch-rationalen Epoche auf abenteuerliche Weise aus der bürgerlich-regulierten Welt aus. Vor allem die
Minerva Press
von William Lane (1745?–1814), der selbst auch eine Kette von »lending libraries« unterhält und aus dessen Verlag alle von Isabella Thorpe im sechsten Kapitel von
Northanger Abbey
erwähnten gotischen Romane (vgl. Anm. 14) stammen, versorgt zum Nutzen für den eigenen Geldbeutel den Markt mit Schauerliteratur.
Diese Romane spielen manchmal äußerst geschickt, manchmal recht plump mit den Nerven der Leser und Leserinnen und haben bei den besseren Autoren durchaus tiefenpsychologische Dimensionen, die im Grauen aufleuchten. Dass sie das heutige Lesepublikum eher erheitern, hat sicher viele Gründe. Man braucht im Zeitalter von Sciencefiction, Kino und Fernsehen, in dem die täglichen Nachrichten schon eine Horrorschau darstellen, wohl stärkere Dosen des Grauens, um sich zu gruseln, und kann sich sicher auch nicht mehr recht vorstellen, wie furchterregend die Nacht war, als man nur Kerzenlicht und offenes Kaminfeuer kannte und Schatten über die Wände huschten, wenn alles im Halbdunkel lag; ganz abgesehen davon, dass die jungen Damen von heute weniger vor der omnipotenten Macht bösartiger Tanten, Vormünder oder Verführer zittern als die wohlbehüteten Mädchen um 1800, als der Jungfräulichkeit – dem Zeichen seelischer und sittlicher Intaktheit – ein ungeheuerlicher Wert zugemessen wurde.
In Walpoles Roman sind die wesentlichen Elemente des Genres schon ausgebildet: die Faszination durch das katholische Südeuropa und die für die protestantischen Engländer unheimlichen Aspekte dieser Religion mit ihren geheimnisumwitterten Klöstern und Inquisitionsgerichten; die alte Burg, die in
Northanger Abbey
und vielen gotischen Romanen ursprünglich kirchlichen Zwecken diente, mit ihren Wällen, Türmen, Kellergewölben und unendlich vielen verwirrenden Räumen und Treppen, wo sich scheinbar oder tatsächlich gespenstische Dinge ereignen (bei Walpole wirklich, später häufig kunstvoll von Finsterlingen inszeniert); das unschuldige junge Mädchen, das schrecklichen Verfolgungen ausgesetzt ist und nachts durch dunkle Gänge irrt; der strenge oder gar böse Vater, Vormund oder Ehemann, der bei Walpole die Braut seines eigenen gerade durch übernatürliche Ereignisse getöteten Sohnes (ein riesiger Helm fällt aus heiterem Himmel auf ihn herab und erschlägt ihn) zur Heirat zwingen will; die märchenhaft-unglaubliche Weise, auf die sich scheinbar arme Gestalten plötzlich als hohe Aristokraten oder steinreiche Erben (häufig die Heldin selbst) herausstellen; der junge Held, der das Mädchen den Verfolgungen entzieht, und die auf amüsante Weise abergläubischen und naiven Bediensteten.
Bis zum Ende des gotischen Romans bleibt dies der Prototyp der Gattung, aber es darf nicht übersehen werden, dass sich alle möglichen Varianten entwickeln. So wird in Mary Shelleys schon erwähntem, durch die unsäglichen Verfilmungen in ein völlig falsches Licht geratenen
Frankenstein
das Faustthema der ins Verbotene vordringenden, verbrecherischen menschlichen Neugier und in William Beckfords (1760–1844)
Vathek
(1786) die grausame exotische Welt des alten Arabien dargestellt. Shelleys Roman, ein wahres Kompendium romantischer Motive, und
The Monk
(1796) von Matthew Lewis (1775–1822), das E. T. A. Hoffmanns
Elixiere des Teufels
beeinflusst hat, bilden für mich den Höhepunkt des gotischen Romans; Lewis’ Buch unter anderem deshalb, weil kein anderer Autor die unheimlichen und finsteren Elemente der katholischen Welt in Spanien so atemberaubend heraufbeschwört und tiefenpsychologisch durchdringt und den Mut hat, den schönen jungen Damen all die fürchterlichen Dinge tatsächlich zuzufügen, mit denen die meisten anderen gotischen Romanciers sie immer nur bedrohen. Sowohl Shelley als auch Lewis waren interessanterweise erst etwa zwanzig Jahre alt, als sie ihre Bücher schrieben. Es gehört übrigens zu den Paradoxien des Genres, dass es die Deutschen als eine spezifisch englische Erscheinung berührt, dass aber die englischen Zeitgenossen um 1800 das »Gotische« als einen deutschen Einfluss empfinden und daher die Autoren häufig entweder ihre gotischen Romane in Deutschland, vor allem im Schwarzwald, spielen lassen oder vorgeben, nur eine Übersetzung aus dem Deutschen zu liefern. Es gehört wohl zu den
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