Klotz, Der Tod Und Das Absurde
werde es Frau Gulden überlassen, wie Sie mit Ihnen
verfahren wird.«
»Gut. Ich sehe ja alles ein und bin durchaus bereit, für die Folgen
geradezustehen. Ich hätte da aber noch eine kleine abschließende Frage.«
»Ja?«
»Was ist jetzt mit dem Fallanal…?«
»Raus!«
Klotz war unterwegs in den Südwesten, nach Stein, einem Städtchen,
das übergangslos an Nürnberg grenzte. Diese Lohofer- beziehungsweise Morvangeschichte
hatte ihm keine Ruhe gelassen. In der Hoffnung, dass sich Biro vielleicht an
irgendetwas erinnern würde, hatte er diesen angerufen, und Biro hatte sich
erinnert: Der damals im Fall Morvan ermittelnde Beamte hatte Jürgen Schulze
geheißen. Ein guter, gewissenhafter Kollege, der während der laufenden
Ermittlungen durch einen Autounfall ums Leben gekommen war.
Das Haus im Jagdweg stammte aus den Fünfzigern. Er wusste nicht
genau, woran er das sah, ob es die hölzernen, traurig herabhängenden Lamellenfensterläden
waren oder der graue Rauputz. Aber fünfziger Jahre, das sah man irgendwie.
Als er klingelte, fiel ihm das vermooste, fleckige Dach auf, auf dem
schief ein verwitterter Wetterhahn stand.
»Grüß Gott. Mein Name ist Klotz. Kripo Nürnberg.«
Die hagere Frau mit dem aschfahlen Gesicht und der gestreiften
Kittelschürze sagte nichts. Sie steckte einen Schlüssel in das schmiedeeiserne
Gartentürchen und sah ihn aus zwei farblosen Augen an:
»Was wollen Sie?«
»Ich bin wegen Ihres Mannes hier.«
»Mein Mann? Aber der ist doch schon seit achtzehn Jahren tot.«
Über die Farblosigkeit ihrer Augen fiel ein Schleier. Sie drehte
sich um. Klotz folgte. Er blickte auf ihr graublondes, dünnes Haar und den
jämmerlichen Dutt, zu dem es gebunden war.
Der beigefarbene, durchgesessene Sessel fühlte sich weich an. Klotz’
Blick folgte dem Pendel einer Wanduhr. Abgesehen von dem knackenden Geräusch,
das von der Elektroheizung kam, war der einzige Laut in diesem Raum das
regelmäßige Ticken der Uhr. Es roch muffig. Auf der Eichenholzkommode stand ein
ausgeblichenes Foto, das auf einen Zinnteller aufgeklebt war. Es zeigte eine
Luftaufnahme des Hauses.
Frau Schulzes Hände zitterten, als sie die Teekanne und die
Plätzchen auf dem Tisch abstellte.
»Nach achtzehn Jahren«, sagte sie ungläubig.
Sie nahm ein Stück Gebäck aus der Schale, und Klotz bemerkte die
vielen bläulichen Adern auf ihrem Handrücken.
»Nach achtzehn Jahren kommt ein Kommissar und möchte wissen, was
damals geschehen ist. Ich habe damals schon gespürt, dass da irgendetwas nicht
mit rechten Dingen zugegangen ist. Aber niemand hat mir geglaubt. Sie hätten
mich beinahe für verrückt erklärt. – Nach achtzehn Jahren. Aber wenigstens ist jemand gekommen.«
Für einen Augenblick war der Schleier von ihren Augen gewichen, und
so etwas wie Hoffnung flackerte auf.
Witwe Schulze erzählte, und Klotz hörte zu.
Sie erinnerte sich noch ganz genau an den Tag. Es war ein Mittwoch,
der 13. Juli 1988. Eigentlich ein schöner, sonniger Tag. Ihr Mann Jürgen hatte
vom Präsidium aus angerufen und ihr gesagt, dass es etwas später werden würde,
wie so oft in den letzten Tagen. Sie solle mit dem Essen nicht auf ihn warten,
er müsse noch ins rechtsmedizinische Institut. Die Besprechung dort würde
wahrscheinlich etwas länger dauern. Was genau er dort wollte, wusste sie nicht.
Ihr Mann nahm das mit der Verschwiegenheitspflicht sehr ernst, wie alles andere
auch. Er war ein sehr pflichtbewusster und loyaler Mensch gewesen.
Über den Fall, den er damals bearbeitete, wusste sie nichts, rein
gar nichts. Aber sie hatte bemerkt, dass seit einiger Zeit irgendetwas nicht
mehr stimmte mit ihm. Ständig schien er mit seinen Gedanken woanders zu sein.
Außerdem fiel es ihm plötzlich schwer, durchzuschlafen. Statt die Wochenenden
mit gemeinsamen Ausflügen oder dem Angeln, seiner einzigen Leidenschaft, zu
verbringen, schloss er sich in sein Arbeitszimmer ein. Sie war sich sicher,
dass er vor irgendetwas Angst hatte.
Einmal, da hatte er gesagt, dass etwas Ungeheuerliches im Gange sei.
Etwas, was jenseits aller Vorstellungskraft liege. Etwas, für das Unschuldige
mit dem Leben bezahlen mussten. Und er war diesem Ungeheuerlichen auf der Spur,
so glaubte sie. Und auch sie hatte Angst gehabt, dass er sich an dieser Sache
die Finger verbrennen könnte. Deshalb hatte sie versucht, ihn zu einem längeren
Urlaub zu überreden, wenn der Kollege, den er vertrat, wieder da wäre.
Und dann, am Abend dieses unseligen Mittwochs, hatte es an
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