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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Das eine. Das immer Gleiche.
    Seit einiger Zeit hat er Kontakt zu Morley Rathbun, einst ein versierter Bildhauer und Aquarellmaler, gefeiert und umjubelt, bis er seiner ihm Modell sitzenden Freundin ein Messer in den Hals rammte. Jetzt verbringt Rathbun seine Zeit weggesperrt, getrennt von den anderen Häftlingen, und malt Ölbilder von Menschen aus seiner Vergangenheit. Aber manchmal nimmt er auch Aufträge an, die ihm korrupte Wachmänner zuschmuggeln. Vor einigen Monaten schickte Willie dem einsamen Künstler drei Pappen und eine genaue Beschreibung. Inzwischen hängt Rathbuns Bess in Willies Zelle, und ihre goldgetupften Augen blicken eindringlich auf ihn herab, während er studiert und manchmal auch lange Briefe an die wirkliche Bess schreibt. Briefe, die er nie abschickt.
    Ich bin dabei, sagt er.
    Freddie klopft ihm auf den Rücken.
     
    Knipsers Kamera klemmt mittlerweile nicht mehr, er macht noch zehn, zwölf Bilder von Willie und dem Holzsoldaten, dann schickt er Willie zum Christbaum und fotografiert ihn, wie er sich an den glitzernden, blitzenden Lichtern ergötzt. Dann stellt er Willie an das Geländer um die Eislaufbahn. Willie schaut auf vierzig oder fünfzig Kinder hinunter, die in langsamen Ovalen dahingleiten.
    Hübsch, sagt Knipser. Ja, ja, das ist ein tolles Foto, Willie. Ja. Sie sehen aus wie ein tiefgründiger Denker. Nicht bewegen. Mist. Ich hab keinen Film mehr.
    Knipser wühlt in den Taschen seiner Wildlederjacke. Die Filme liegen im Auto, sagt er. Bin gleich wieder da.
    Er rennt über die Rockefeller Plaza in Richtung Polara.
    Sutton zündet sich eine Chesterfield an und schaut über die Eislaufbahn zu einer riesigen goldenen Statue. Er ruft Schreiber zu: Wen stellt die Statue dar, Kleiner?
    Schreiber tritt vor. Prometheus.
    Sehr gut. Du hast gut aufgepasst in Mythologie. Was hat er gemacht?
    Er hat den Göttern das Feuer gestohlen und es den Sterblichen geschenkt.
    Und ist er damit durchgekommen?
    Kann man nicht behaupten. Er wurde an einen Felsen gekettet, und die Vögel haben für alle Ewigkeit an seiner Leber gepickt.
    Wahrscheinlich hat er einen meiner Anwälte gehabt. Im Knast hab ich ein Heftchen über Religion gelesen. Von Alfred North Whitehead, ein brillanter Bursche. Ihm zufolge erzählt jede Religion die Geschichte eines Mannes, der vollkommen allein und von Gott verlassen ist.
    Halten Sie das für zutreffend?
    Letztlich sind das alles nur Theorien, Kleiner. Theorien und Geschichten.
    Und nach dem Debakel mit der Kanalisation, Mr Sutton, was kam dann?
    Wir gruben einen Tunnel. Alles, was mir im Gefängnis widerfahren ist, war eine Lektion fürs Leben, aber nichts war vergleichbar mit dem Tunnel. Am Anfang sah alles so hoffnungslos aus. Jeden Tag hackten und gruben wir wie die Besengten, und jeden Abend standen wir praktisch mit leeren Händen da. Wir machten uns gegenseitig Mut, spornten uns immer wieder an – Stück für Stück. Weitermachen. Noch heute bekomme ich Briefe aus aller Welt von Leuten, die behaupten, mein Tunnel hätte sie inspiriert. Leute, die mit Krankheiten und allen möglichen Krisen kämpfen, schreiben mir und sagen, wenn Willie Sutton sich aus einem Drecksloch wie Eastern State wühlt, dann können sie sich auch aus ihren Problemen wühlen.
    Wie lang war der Tunnel?
    Dreißig Meter.
    Sie haben dreißig Meter unter dem Gefängnis gegraben – mit bloßen Händen? Das klingt unmöglich.
    Wir hatten ein paar Spaten und Löffel. Kliney war der reinste Lumpensammler.
    Und die Wachen haben nichts gemerkt?
    Der Tunneleingang war in der Wand neben Klineys Zellentür. Kliney war ein Privilegierter, hatte also Zugang zur Holzwerkstatt und konnte ein Holzpaneel nachbauen, um den Eingang zu verdecken.
    Trotzdem kommt es einem unmöglich vor.
    Das war es auch.
    Hatten Sie nicht Angst, der Tunnel könnte einstürzen? Und Sie lebendig begraben?
    Ich war schon lebendig begraben.
    Aber ein dreißig Meter langer Tunnel. Wie kann es sein, dass die Wände hielten?
    Wir haben sie mit Brettern abgestützt.
    Und woher hatten Sie die Bretter?
    Wenn du Kliney zwei Wochen Zeit gegeben hast, konnte er dir auch Ava Gardner besorgen.
     
    Im Sommer 1944 arbeitet die Tunnelmannschaft in Schichten zu zweit, nicht länger als eine halbe Stunde, damit niemand bei der Arbeit vermisst wird. Die Hälfte gräbt Willie, die andere Hälfte der Zeit versucht er, die Stimmungsschwankungen seines Teamkollegen Freddie aufzufangen, dessen starker Drang, aus Eastern State rauszukommen, fast schon

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