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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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wurde. Er schwenkt den Strahl hin und her und denkt: Ein gutes Jahrhundert menschlicher –
    Er merkt, dass die Lebenslangen ihn anstarren. Er mustert sie. Drei große, abgebrühte Burschen, aber aus ihren Augen spricht eine kindliche Angst. Willie kriecht vorwärts, gefolgt von den drei anderen. Knapp sieben Meter, dann geht es steil bergab. Die Pampe reicht ihnen bis zur Hüfte.
    Was soll’s, sagt er zu den anderen.
    Aber eigentlich eher zu sich selbst.
    Er versucht, an Chapins Rosen zu denken, an die paradiesischen Gärten von Greystone, an Bess’ zarten Duft, aber das ist nicht leicht, wenn die Pampe zu Fleischpudding wird. Und bis zum Bauch steigt. Bis zu den Brustwarzen. Den Schultern. Er muss an die Wachposten in den Türmen denken, wenn sie über dem Eimer hocken. Er überlegt, von welchem Wachmann der Fleischpuddingbrocken stammen könnte, der ihm gerade ans Kinn schwappt. Als ihm der Schmodder bis zur Unterlippe reicht, kommt Willie zu dem Schluss, dass sie wahrscheinlich am Übergang zwischen dem Abwasserkanal und dem Auffangbecken sind. Dahinter müsste ein Gullyloch sein, und dann die Straße. Er bedeutet den Lebenslangen, ihm zu folgen. Sie schütteln den Kopf – nichts da.
    Willie nimmt allen Mut zusammen. Unter den entsetzten Blicken der Lebenslangen schließt er die Augen, hält sich die Nase zu – und taucht ab.
    Er schlängelt sich suchend vorwärts. Kein Becken.
    Er streckt die rechte Hand vor. Kein Becken.
    Er schwimmt und glitscht ein, zwei Meter weiter. Immer noch kein Becken.
    Ihm geht die Luft aus, er gerät in Panik und verliert die Orientierung. Plötzlich weiß er nicht mehr, wo vorne und hinten ist. Er dreht sich um, schwimmt ein Stück, streckt wieder die Hand aus und betet, sie möge auf das Knie oder den Oberschenkel eines Lebenslangen treffen.
    Nichts.
    Er schlägt die andere Richtung ein, streckt noch einmal die Hand aus – nichts.
    Seine Lunge fleht ihn an, Luft zu holen. Aber er weiß, was ihm in den Mund dringt und die Nase hochschießt und die Kehle runterrinnt, wenn er das tut. Er tastet und tastet und spürt schließlich etwas Festes. Einer von den Lebenslangen. Er packt zu, zieht sich hoch, kommt an die Oberfläche und schnappt gierig nach Luft. Er reibt seinen Augen den Weg frei. Die Lebenslangen starren ihn an. Er weiß nicht, ob es nacktes Entsetzen oder Mitleid ist, was er in ihren Gesichtern sieht. Sein Kopf, sein Haar, seine Augen sind voll, vollständig voll mit dieser, dieser – er kommt um das Wort nicht herum. Scheiße. Sein Mund ist voll damit. Er hustet. Er spuckt und spuckt. Scheiße, Scheiße, Scheiße.
Scheiße
.
    Jetzt drehen sich alle um und spähen durch das Rohr in die Dunkelheit, in die Willie sich eben gewagt hat. Da hinten liegt die Freiheit. Hinter einer soliden Schicht Scheiße.
    Sie stapfen zurück zu dem Loch im Rohr, klettern hoch und durch die Holzdiele nach oben. Sie wischen sich gegenseitig ab, mit einem Lappen, aber es ist hoffnungslos. Sie ziehen sich an, bedecken ihre schleimigen Köpfe mit Baseballkappen und hasten mit doppeltem Tempo zu den Duschen.
    Willie würde am liebsten den ganzen Tag unter dem heißen Wasserstrahl stehen bleiben. Aber er muss schnell wieder zurück zu Psycho. Den Rest des Nachmittags tippt er und versucht nicht daran zu denken, wo er noch eben war. Er spürt den Fleischpuddingbrocken immer noch an seiner Lippe. Wird ihn immer spüren.
    Ein paar Tage später werden Willie und die Lebenslangen mitten in der Nacht von ihren Pritschen aufgescheucht. Man konfisziert ihre Kleider und Schuhe. Labortests ergeben, dass der Dreck unter ihren Schuhen mit dem aus dem Keller übereinstimmt. Willie schafft es wieder in alle Zeitungen. Der Erzbankräuber ist auch ein mit allen Wassern gewaschener, nicht unterzukriegender Ausbruchskünstler. Die Zeitungen verpassen ihm einen neuen Spitznamen, Slick Willie, der ihm nicht so gut gefällt wie The Actor. Hardboiled Smith verdonnert ihn und die drei Lebenslangen zu einem Monat Dunkelzelle, dann zu einem weiteren Jahr gelockerter Iso. Willie liest wieder die Bibel. Von vorne bis hinten. Von hinten bis vorne.
     
    Knipser rast ins Zentrum von Midtown. Sutton starrt aus dem Fenster und sieht nur verschwommene neue Häuser, bis er St. Patrick’s Cathedral erkennt. Vor vielen Jahren hatten Anarchisten Bomben in St. Patrick’s gezündet. Sie waren wütend, dass die Kirche Hunderten von arbeitslosen Arbeitern keine Zuflucht gewährt hatte. Ein Priester kam ums Leben. Dieselben

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