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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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ein Spinner. Es leuchtet ein, dass er bei einem solchen Plan dabei ist.
    Große Sache, sagt Willie.
    Freddie flüstert ihm ins Ohr: Deswegen brauchen wir dich, Willie. Wir brauchen einen Platz, wo wir die Erde hinschaffen können.
    Sie glauben, der beste Platz wäre die Kanalisation, und Willie ist der ortsansässige Kanalisationsexperte. Willie soll ihnen sagen, wo ihr Tunnel auf das Abflussrohr stößt. Aber Willie ist nicht scharf darauf, noch mal in den Untergrund zu gehen. Sieben Jahre liegt sein Ausflug in die Kanalisation zurück, sieben Jahre, und noch immer hat er Albträume. Noch immer wacht er auf und spuckt Scheiße. Außerdem hat er bei Freddie und Botchy ein schlechtes Gefühl, ein marcushaftes, plankmäßiges Gefühl. Der eine ist skrupellos, der andere hoffnungslos dumm. Freddie hat den Spitznamen Todesengel nicht, weil er ein Killer ist, sondern weil er Freude am Morden hat. Und Botchy hat seinen Spitznamen, weil er so viele Raubüberfälle vermurkst hat. Willie starrt unverwandt auf die Leinwand. Gerade zeigen sie in der Wochenschau einen Film über die Journalisten, die darauf warten, über die Landung der Alliierten in der Normandie zu berichten.
Wir begrüßen die tapferen Kameramänner, die sich darauf vorbereiten, die Invasion der Alliierten in Europa festzuhalten!
Wer ist noch dabei?, fragt er.
    Botchy leiert neun Namen herunter. Willie kennt einen davon. Akins. Ein Schwachkopf, ein Nervösling. Nicht gerade die 101 . US -Luftlandedivision, diese Mannschaft. Aber welche Wahl hat Willie schon? Entweder der Tunnel oder nichts.
    Ein Teil von ihm ist entschlossen, für immer in Eastern State zu bleiben, hier zu sterben, hier begraben oder noch einmal begraben zu werden, so sieht er es. In den letzten sechs Jahren fand er Zufriedenheit und sogar etwas Glück in Büchern. Bücher sind alles, wofür er lebt, aber manchmal fehlt auch etwas. Endlich bekommt er die Schulbildung, die ihm als Junge immer versagt blieb und mit der vielleicht alles anders geworden wäre. Selbst der Name des Gefängnisses – Eastern State – klingt wie ein beschissenes College.
    Sein Dekan ist E. Haldeman-Julius. Die Leute nennen Julius den Henry Ford der Literatur, weil unter seiner Regie eine Reihe von Professoren, Wissenschaftlern und Intelligenzbolzen wie am Fließband zu jedem Thema unter der Sonne klare, schlichte Bändchen produzieren – von Hamlet bis zu Landwirtschaft, von Mythologie bis Physik, von US -Präsidenten zu römischen Kaisern. Jeder in Amerika hat wenigstens ein paar Little Blue Books gelesen – Admiral Byrd nahm sogar ein paar zum Südpol mit –, und Willie bringt es auf Hunderte. Seine Zelle ist voll davon. Allein in diesem Jahr hat er schon folgende Titel gelesen:
Aristoteles für Anfänger; Telegramme verfassen – leicht gemacht; Hinweise zum Schreiben von Einaktern; Die Evolution verstehen; Ein Abriss des Amerikanischen Bürgerkriegs; Tolstoi: Leben und Werk; Die besten Yankee-Witze; Die Kunst des Glücklichseins; Gedichte von William Wordsworth; Liebe und Gefühl – irische Gedichte; Das Buch der Broadway-Weisheiten; Das Wetter: Wie es entsteht und warum; Essays über Rousseau, Balzac und Victor Hugo; Eine Reise zum Mond
und
Wie baue ich ein Gewächshaus?
    Sobald er sich mit einem kleinen blauen Buch einen ersten Überblick verschafft hat, nimmt er sich die grundlegenden Werke zu dem jeweiligen Thema vor. Derzeit bewältigt er die klassischen Philosophen – Platon, Aristoteles, Lukrez. Und die Psychologen. Von Freud hat er die Hälfte gelesen, von Jung das meiste, von Adler einiges.
    Wenn er seiner Studien überdrüssig ist, liest er einfach wieder
Sturmhöhe.
    Es gibt Abende, an denen er mit einer warmen Mahlzeit und ein paar Stunden Lektüre vor dem Ausschalten der Lichter zufrieden ist. Vor kurzem las er fasziniert in einem kleinen blauen Buch, dass die Heiligen ähnlich gelebt haben. Sie schliefen in Zellen, lasen die ganze Zeit und kamen ohne Frauen zurecht. Eastern State ist also nicht nur sein College, sondern auch seine Mönchsklause. Jedenfalls dachte er das. Bis jetzt. Während er Freddie und Botchy zuhört und auf der Leinwand sieht, wie amerikanische Soldaten sich für den größten Straßenkampf der Geschichte rüsten, schämt er sich. Ihm wird klar, dass er weich geworden ist. Wieder hat er sich von dieser leisen Stimme im Hinterkopf, die ihn immer zum Aufgeben drängt, täuschen lassen. Bücher sind nicht alles, wofür es sich zu leben lohnt. Es gibt noch anderes.

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