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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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psychotisch ist. Willie leuchtet das vollkommen ein – er erinnert sich an Psychos Notizen über Freddie.
    Freddie erinnert Willie oft an Eddie. Die Wut ist die gleiche, auch wenn die Grundursache eine andere ist. Bei Freddie fängt alles mit der Größe an. Er hat unglaubliche Hemmungen wegen seiner eins sechzig. Laut Botchy, der Freddie schon draußen kannte, trug er immer, immer Schuhe mit Absätzen. Freddies alles verzehrendes Freiheitsbedürfnis scheint irgendwie damit zusammenzuhängen. Er kann es nicht ertragen, dass alle wissen, wie klein er ist. Er braucht diese hohen Schuhe. In Größe achtunddreißig.
    Freddie leidet außerdem an einer unsäglichen Hautkrankheit. Alle paar Monate brechen auf Gesicht, Brust und Armen Nesselausschlag und eitrige Wunden aus. Die Anstaltsärzte kennen die Ursache nicht. Letztendlich schicken sie ihn nur in hiesige Krankenhäuser zum Blutaustausch, aber auch der hilft nur manchmal. Freddie erzählt Willie bei der Arbeit im Tunnel, dass alles in der Kindheit begann. Als jüngstes von zwölf Kindern wurde er nach dem Tod seiner Mutter in eine Pflegefamilie gegeben und erlitt eine erste Hautattacke, nachdem eines seiner Pflegegeschwister ihn missbraucht hatte. An manchen Tagen wacht Freddie mit einem derart geschwollenen Gesicht auf, dass er die Augen nicht öffnen kann. Trotzdem will er immer unbedingt in den Tunnel hinunter. Er erinnert Willie an einen Maulwurf. Einen psychotischen Maulwurf. Obwohl nicht viel größer als der zwergenhafte Hughie McLoon, verfügt Freddie über erstaunliche Körperkräfte. Bei der Arbeit im Tunnel zieht er oft sein Hemd aus und lässt harte, pralle Muskeln sehen, die seine Tätowierungen auf Armen, Brust und Bauch in Wellen überlaufen. Willie und Botchy sagen oft im Scherz, wenn es möglich wäre, Freddie eine Woche allein im Tunnel zu lassen, würde er sich bis ins Zentrum von Philly wühlen.
    So zornig und gewaltbereit er normalerweise auch wirkt, bei Willie ist Freddie kreuzbrav. Er erkundigt sich in ehrfurchtsvollem Tonfall nach Willies Banküberfällen, Fluchtversuchen und berühmten Kumpeln. Er kann nicht glauben, dass Willie Capone, Legs und Dutch kennt. Er möchte alles von Willie wissen, und Willie antwortet ihm wahrheitsgemäß. Es ist zu anstrengend, im Tunnel zu lügen. Die Wahrheit zu sagen verbraucht weniger Luft.
    Besonders fasziniert Freddie, dass Willie nie einen Partner verpfiffen hat. Abgesehen von Eddie kennt Willie niemanden, der Verräter mehr hasst als Freddie.
     
    An manchen Tagen kamen wir in den Tunnel, und er war voller Ratten. Wir erschlugen sie mit unseren Spaten. Es waren große, fette Viecher – man musste fünf-, sechsmal draufhauen. Mein Buddelpartner genoss das.
    Freddie, der Todesengel?
    Woher weißt du das?
    Das ist eine der dicksten Mappen in den Sutton-Akten.
     
    Ende 1944 sind sie fast an der Mauer, aber mittlerweile so weit entfernt von Klineys Zelle, dass ihnen die Luft ausgeht. Als Willie und Freddie ein Team ablösen wollen, finden sie es ächzend und halb ohnmächtig vor. Kliney trommelt die Tunnelmannschaft zusammen und warnt alle, sich nicht zu übernehmen. Wenn irgendjemand dort unten arbeitsunfähig wird oder stirbt, wird Hardboiled sie alle für den Rest ihres Lebens in Isolationshaft stecken.
    Die Dunkelheit ist ebenfalls zu berücksichtigen. Wenn man den Spaten oder den zugefeilten Löffel fallen lässt, dauert es manchmal zwanzig Minuten, bis man ihn wiederfindet. Kliney klemmt einen dünnen Draht in die Zellensteckdose und lässt ihn weit in den Tunnel hinunter, um ein paar Glühbirnen mit Strom zu versorgen. Jetzt gibt es Licht. Und Luft. Er schließt auch einen Drehventilator an, den er aus dem Büro des Anstaltsleiters gestohlen hat.
     
    Wie lange hat es gedauert, sich nach draußen zu wühlen?
    Fast ein Jahr. Als wir endlich auf das Abwasserrohr stießen, ging es schneller, weil wir dort lose Erde reinwerfen konnten. Davor mussten wir die Erde in unseren Taschen raustragen und im Hof verstreuen. 
    Sutton beobachtet eine Gruppe Kinder, die rückwärts Achten fahren und sich im Kreis drehen. Sieh nur, sagt er. Sie sind so anmutig. So unschuldig. Ob ich auch mal so unschuldig war?
    Schreiber entdeckt ein Münztelefon neben der Snackbar. Mr Sutton, ich muss mal eben meine Freundin anrufen.
    Nur zu. Wir leben in einem freien Land.
    Hm. Also.
    Ich mach mich schon nicht aus dem Staub, Kleiner. Ich bin noch da, wenn du wiederkommst.
    Vielleicht könnten Sie mit mir kommen?
    Ich setz mich

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