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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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entfernt, einen Meter sechzig, er gräbt und gräbt sich hoch. Willie packt Freddie um den Hals und zieht ihn nach unten in den Tunnel. Freddie schiebt Willie weg. Willie packt Freddie am Kragen. Am Haar. Freddie dreht sich um, holt aus, schlägt Willie auf die Nase, packt ihn am Hemd, haut ihm noch mal auf die Nase und noch mal. Die Nase wäre gebrochen, wenn es noch etwas zu brechen gäbe.
    Freddie gräbt weiter. Er ist fast oben. Willie, der aus der Nase blutet, brüllt ihn an: Das kannst du nicht machen, Freddie. Du verrätst die anderen. Wir stecken da alle zusammen drin. Wenn du das tust, bist du ein elender Verräter.
    Freddie hält inne. Er gleitet nach unten, sackt an der schlickigen Tunnelwand zusammen. Er schnauft, keucht, sein mit Pusteln übersätes Gesicht ist knallrot. Du hast recht, Willie, sagt er. Ich hab den Verstand verloren. Die Vorstellung, draußen zu sein. Ich bin durchgedreht.
    Auf allen vieren kriechen sie im Tunnel zurück und sagen es den anderen. Es ist so weit.
    Am nächsten Morgen versammeln sich alle in Klineys Zelle. Von Anfang an war geplant, dass die Flucht nach dem Frühstück stattfindet, wenn die meisten Gefangenen unterwegs sind. Deshalb stellen sie sich jetzt ohne große Diskussionen in eine Reihe und springen nacheinander durch das Loch, wie Fallschirmspringer über ihrem Ziel. Kliney übernimmt die Führung, dann Freddie, dann Botchy, dann Akins, dann sieben andere Jungs, dann Willie. Einer nach dem anderen gleiten sie hinunter in den Schacht, in den Tunnel, und kriechen wie Krabben der Freiheit entgegen.
    Als sie sich dem Loch nähern und ein weißer Lichtstrahl zu sehen ist, ist Willie überwältigt. Eine Art religiöse Ekstase ergreift sein Herz. Ein Dankgebet bricht aus ihm heraus. Oh Gott, ich weiß, dass ich ein Sünder bin, und ich weiß, dass ich ein jämmerliches Leben geführt habe, aber dieser Augenblick ist eindeutig ein Geschenk von dir, und dieser Lichtstrahl und diese frische Luft sind dein Segen. Das kann nur heißen, du hast mich noch nicht ganz aufgegeben.
    Er klettert hoch, hoch, hoch, durch Dreck, Wurzeln und Gras, steckt den Kopf aus dem Loch. Es ist einer der ersten warmen Frühlingstage. Er riecht die feuchte Erde, die frischen Blumen, die warme, freundliche, honigsüße Sonne. Er schiebt die Schultern durch das Loch, dann die Hüften, die Brust, und fällt auf den Boden, über und über mit Grashalmen und Modder bedeckt. Eine zweite Geburt.
Er war nicht zur Welt gekommen, er war geflüchtet
. Er liegt auf der Seite und sieht mit zusammengekniffenen Augen zu den schwarzen Mauern des hundert Jahre alten Gefängnisses hoch. Von Hand geschlagene Steine, gezackte Zinnen, lange schmale Schlitze als Fenster. Über zehn Jahre saß er in diesem Gefängnis, ohne zu bemerken, wie hässlich es war.
    Er kommt auf die Knie, schaut die Straße entlang, erhascht einen Blick auf Freddie und Botchy, die um eine Ecke biegen. Er schaut über die Fairmount und sieht einen Lastwagenfahrer mit offenem Mund, der genau in diesem Augenblick angehalten, seine Thermoskanne geöffnet und auf die Karte gesehen hat. Er hört schwere Schritte hinter sich und dreht sich um. Zwei Cops. Er springt auf die Füße und rennt los.
    Kugeln zischen neben ihm über den Gehweg. Er flitzt um ein Auto, über einen Rasen, überspringt ein Kinderdreirad, sprintet durch eine Gasse, platzt durch eine Tür, die in irgendein Lagerhaus führt. Er schließt die Tür, kauert sich in eine Ecke. Vielleicht haben sie ihn ja nicht gesehen.
    Komm raus, oder wir erschießen dich durch diese Scheißtür.
    Er geht hinaus, durchnässt, dreckig, untröstlich. Die ganze Arbeit, die vielen Monate Hacken, Schaben, Graben – für einen Drei-Minuten-Sprint in der Frühlingssonne.
    Zusammen mit Willie werden noch weitere acht auf der Stelle verhaftet. Einer schlägt sich eine Woche in Freiheit durch, dann klopft er ans Eingangstor des Gefängnisses und bittet müde und hungrig, wieder eingelassen zu werden. Nur noch Freddie und Botchy sind auf freiem Fuß.
    Jedes Mitglied der Tunnelmannschaft muss in Ketten vor Hardboiled antreten. Der Ausbruchsversuch ist im ganzen Land und auf der Welt Thema Nummer eins, und Hardboiled ist klar, dass er ihm ewig anhängen wird. Er wird für immer die Witzfigur sein, vor deren Nase zwölf Gefangene einen dreißig Meter langen Tunnel gegraben haben. Und er ist nicht der Mann, der es gelassen hinnehmen kann, wenn man ihn auslacht. Einer muss dafür zahlen.
    In Eastern State gibt es

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