Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
Vom Netzwerk:
Anarchisten wollten auch die Villa von Rockefeller in die Luft sprengen. Die Bombe ging nicht los.
    Heute wird er sterben.
    In der Fifth parkt Knipser in der zweiten Reihe. Sie steigen aus und marschieren nacheinander zur Rockefeller Plaza. Egal, wo du in dieser Stadt hingehst, grummelt Sutton, immer triffst du auf den Namen. Rockefeller.
    Knipser macht ein paar Bilder, legt einen neuen Film ein. Okay, Willie, erst machen wir ein paar Aufnahmen von Ihnen vor dem Schaufenster des Souvenirladens. Mit diesem Nussknackertypen.
    Sutton sieht sich um. Ein Holzsoldat, größer als ein ausgewachsener Mann, hält neben einem Plastikbaum und einem künstlichen Kamin Wache. Sutton geht zu dem Souvenirladen, lehnt sich ans Fenster, beäugt den Holzsoldaten.
    Perfekt, sagt Knipser. Genau so, Willie. Moment – die Kamera klemmt. Mist. Scheiß Leicas. Warten Sie bitte kurz.
    Während Knipser die Kamera untersucht, tritt Schreiber vor, stellt sich neben Sutton und bewundert den Holzsoldaten.
    Wusstest du, dass ich durch Scheiße geschwommen bin, Kleiner?
    Wie bitte?
    Scheiße.
    Sie meinen metaphorisch.
    Seh ich so aus, als ob ich in Metaphern rede? Weihnachten 1936 bin ich durch menschliche Fäkalien gekrault. Buchstäblich.
    Tut mir leid, ich kann nicht folgen.
    Unter der Eastern State war so ein Kanalisationsrohr.
    Okay.
    Angeblich führte es in die Freiheit. Aber ich stellte fest, dass es zu Scheiße und noch mehr Scheiße führte, und diese Scheiße führte in noch tiefere Ebenen von Scheiße. Als sie mich erwischten, warfen sie mich wieder in eine Dunkelzelle, danach kam ich wieder in gelockerte Iso. Und diesmal hätten sie mich fast kleingekriegt. Ich sehnte mich so nach menschlichem Kontakt, irgendeinem Kontakt, dass ich das Wasser aus der Toilette abließ und durch die Rohre mit dem Mann in der Nachbarzelle redete. Zumindest glaube ich, dass er in der Nachbarzelle war. Wir konnten einander kaum verstehen, aber wir redeten stundenlang – so entstand eine der stärksten Bindungen, die ich jemals zu einer anderen Person hatte. Dann war die Stimme eines Tages verschwunden. Entlassen, gestorben – ich hab es nie erfahren. Als sie mich ungefähr ein Jahr später aus der gelockerten Iso entließen, war ich ein guter Junge. Ich besuchte Korrespondenzkurse, machte einen Abschluss in Kreativem Schreiben, wurde ein Musterhäftling. Schwimmen durch Scheiße – das verändert einen Menschen.
    Kann ich mir denken.
    Scheiße
. Die Leute verwenden das Wort viel zu sorglos. Wenn irgendeine banale Sache schiefläuft, sagen sie Scheiße. Das würden sie nie tun, wenn sie wirklich mal durch Scheiße hätten schwimmen müssen. Sie würden mit Sicherheit alles ganz anders sehen, wenn sie sich fragen würden: Bin ich bereit, dafür durch Scheiße zu schwimmen?
    Sutton sieht Schreiber an, strafft die Schultern wie der Holzsoldat. Gibt es im Augenblick etwas, für das du durch Scheiße schwimmen würdest, Kleiner?
    Mal sehen. Wenn Sie am Schauplatz von Schusters Mord stehen und mir sagen würden, wer Arnold Schuster umgebracht hat.
    Sutton zieht den Trenchcoat enger um sich und steckt die Hände tief in die Taschen. Du hast wirklich deinen Beruf verfehlt, Kleiner. Du hättest Cop werden sollen.
     
    Die Sitze im Gefängniskino sind auf Steinblöcke gelegte Bretter. Immer wenn ein neuer Mann Platz nimmt, wackeln sie wie Wippen. Willie sieht sich die Wochenschau an.
Der bislang blutigste Kampf für unsere tapferen
GI s!
Er kippelt, als sich jemand schwer zu seiner Rechten niederlässt. Freddie Tenuto, ein Hitzkopf aus South Philly. Schwarze Augen, seitwärts gebogene Nase, schlechte Haut – richtig übel. Böse Haut für einen bösen Mann. Als Mafiamörder war Freddie auf den Straßen als Todesengel bekannt. Willie kippelt wieder. Jemand lässt sich schwer zu seiner Linken nieder. Botchy Van Sant. Auch ein Mann aus Philly. Raubvogelgesicht, ein Lächeln wie eine Schmerzgrimasse.
    Frühjahr 1944 . Die Operation Gardening ist im Gange. Unter dem Bumbum der Alliierten Luftwaffe über der Donau erklären Botchy und Freddie Willie, dass sie einen Tunnel graben. Neun Jungs arbeiten rund um die Uhr. Gute sechs Meter haben sie schon durch soliden Stein nach unten gehackt, jetzt noch dreißig Meter geradeaus, und sie sind unterm Rasen entlang der Fairmount Avenue. Dann nur noch neun Meter nach oben graben.
    Wo fängt der Tunnel an?, fragt Willie.
    Unter Klineys Zelle, sagt Botchy.
    Willie nickt. Kliney ist ein Aasgeier, ein sammelwütiger Chaot und

Weitere Kostenlose Bücher