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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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frei.
    Und nach Ihrer Verhaftung hat man sie nach Holmesburg geschickt?
    Schweigen.
    Mr Sutton?
    Schreiber dreht sich um. Sutton starrt ins Leere.
    Mr Sutton?
    Er starrt weiter.
    Mr Sutton.
    Was? Oh. Ja, Kleiner. Holmesburg. Sie nannten es die Burg. Und ich war in Block C, bei den Allerschlimmsten. Den Geisteskranken, den Unverbesserlichen. Sie nannten Block C den Dschungel. Und es war ein Dschungel, nur mit mehr Ungeziefer und schlechterer Luft. Sie haben ohne unser Wissen medizinische Versuche mit uns angestellt. Die Ärzte in der Burg kassierten Schmiergelder von Arzneimittelfirmen. Wenn du am Leben bleiben wolltest, musstest du dich von der Krankenstation fernhalten. Aber für mich war das nicht so leicht. Ein Drittel meines Lebens hinter Gittern – das hat sich langsam bemerkbar gemacht. Saurer Magen, schlimmes Kreuz, schmerzhafte Knie. Und immer Verstopfung. Für eine Backpflaume hätte ich euch mit einem selbstgemachten Messer erstochen. Die Ärzte gaben mir nur zu gern eine Tablette oder eine Spritze. Sie behaupteten, es wären Medikamente oder Vitamine. Aber es war Gift. Hinterher fühlte ich mich immer krank. Krank. Richtig kraaank.
    Schreiber sieht Knipser an. Du hast doch wohl nicht etwa?, sagt er.
    Was?
     
    Jeden Morgen kommt ein Privilegierter in Willies Zelle und bringt ihm seine Post, seine Bücher, das neueste Gift von den Ärzten. Er ist dreiundzwanzig, redet langsam, geht langsam, sein blondes Haar fällt ihm lang und tief in die Stirn, bis über ein Auge. Vielleicht liegt es an den vielen Stunden, die er bei Psycho verbracht hat, oder an den vielen Büchern von Freud und Jung, aber Willie durchschaut diesen Typen sofort und weiß instinktiv, dass er nach der Anerkennung eines älteren Mannes lechzt. Dafür würde er sogar durch Scheiße schwimmen.
    Willie lässt seinen ganzen Charme spielen. Was macht die Kunst, Kleiner? Wie geht es dir?
    Gut, sagt der Privilegierte, danke der Nachfrage. Die anderen fragen mich das nicht.
    Die anderen fragen nicht, weil der Privilegierte ein Verräter ist, eine Ratte. Er gehörte einer Bande von Schaufenstereinbrechern in North Philly an, und als man ihn schnappte, verpfiff er seine Kumpel. Willie findet es zum Kotzen, sich mit einem Verräter anzufreunden und dessen Ego zu streicheln, aber er ist sein einziger Kontakt zur Außenwelt. Und das heißt, Willies einzige Hoffnung.
    Willie widmet sich dem jungen Mann monatelang und findet heraus, wie er tickt und welche Knöpfe man bei ihm drücken muss. Er erkundigt sich nach seinen Lieblingsmannschaften, Lieblingsliedern, Lieblingsschauspielern und hört sich seine schwachsinnigen Geschichten an, in denen er am Ende immer als triumphierender Held dasteht. Er lacht über jeden hirnrissigen Witz und runzelt theatralisch die Stirn, wenn er Willies Zelle verlässt, um seine Runde zu beenden.
    Willie traktiert ihn subtil mit Fragen. Kleiner, hast du draußen einen Beruf gelernt?
    Maler und Anstreicher.
    Tatsächlich? Ich hab mir das immer ziemlich interessant vorgestellt.
    Ich war auch gut. Deshalb lässt mich der Anstaltsleiter ja auch manchmal zum Arbeiten aus dem Knast.
    Was du nicht sagst? In die Stadt?
    Na klar. Für ein paar Stunden. Ich darf sogar Freunde besuchen. Das ist gut, denn hier hab ich ja keine. Die denken alle, ich bin ein Verräter. Aber ich bin in Ordnung, Willie.
    Das weiß ich, Kleiner. Ich weiß immer, wenn einer in Ordnung ist.
    Ich hab den Cops nur was gesagt, weil sie mich verprügelt haben.
    Du hast Glück, dass sie dich nicht umgebracht haben. Die Cops.
    Mann. Du verstehst mich wirklich, Willie.
    Das tu ich, Kleiner. Wirklich. Aber in einem Punkt irrst du dich.
    Und der wäre?
    Du hast einen Freund hier drin.
    An Silvester 1947 hören Willie und Ratte gemeinsam Radio. Ein neues Lied.
What Are You Doing New Year’s Eve?,
möchte Margaret Whiting wissen und fragt wiederholt, wen Willie um Schlag Mitternacht wohl küssen wird? Zum Teufel mit ihr. Willie schaltet auf Nachrichten um. Ein Schneesturm wütet im Nordosten – fast hundert Menschen sind tot. Im ersten Auschwitz-Prozess wird das Urteil verkündet – dreiundzwanzig Angeklagte sollen gehängt werden. Uralte Bibelschriftrollen werden in einer Höhle gefunden – irgendwo in der Nähe des Toten Meeres. Willie stellt das Radio leiser.
    Hör zu, Kleiner. Bei deinem nächsten Ausflug in die Stadt musst du mir was mitbringen.
    Kein Problem, Willie.
    Ich brauche eine Knarre.
    Er sagt es beiläufig, als verlange er nur eine zusätzliche

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