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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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nicht zurückzuschrecken. Entweder er küsst ihn zurück, oder er bleibt sein Leben lang in dieser Zelle. Er muss diesen Kuss nicht nur aushalten, er muss so tun, als ob er ihn genießt. Nein. Er muss ihn genießen. Als er Rattes Zunge spürt, berührt er sie leicht mit seiner, schiebt sie ihm tief in den Mund. Ratte stöhnt, fährt Willie mit den Fingern durchs Haar, und Willie lässt ihn, erwidert die Geste.
    Ratte will noch mehr. Willie dreht sich um. Ach, Kleiner, sagt er. Bitte, geh. Bevor ich dich am Ende nicht gehen lasse.
    Er wartet. Hört Ratte schwer atmen. Schwer nachdenken. Dann endlich scheppert die Zellentür zu.
    Mit pochendem Herzen legt Willie sich auf die Pritsche. Unsere besten Vorstellungen im Leben, erklärt er der Wand, geben wir ohne Publikum.
    Den ganzen Nachmittag liegt er da. Sein Essen rührt er nicht an. Er liest nicht, schreibt nicht. Nach der Inspektion kurz vor Mitternacht zählt er bis neunhundert, holt die . 38 er unter der Matratze vor, steckt sie in den Hosenbund und kriecht zur Tür. Er tritt die lose Gitterstange weg und schlängelt sich durch das Loch. Er rennt die Treppe hinunter und sieht, dass Freddie es ihm gleichtut. Freddie springt zu Willie, umarmt ihn und dankt ihm für den ausgeheckten Plan. Dann schleichen sie zur Haupttür des Zellenblocks und kauern sich dahinter.
    Willie gibt Freddie die Waffe.
    Um Schlag Mitternacht hören sie auf der anderen Seite der Tür zwei Stimmen. Schlüsselklirren. Jetzt, flüstert Freddie.
    Die Tür öffnet sich in ihre Richtung. Sie springen auf. Die Wachmänner sind schneller, als Willie erwartet hatte. Fast gelingt es ihnen, die Tür wieder zuzuziehen. Aber Freddie hechtet in den Türspalt wie ein Fullback über die Ziellinie. Mit all seiner Wut und Kraft wuchtet er sich durch und packt den ersten Wachmann am Hals, wirft ihn zu Boden und rammt ihm die . 38 er in den Mund.
    Die Wachen in der knapp zwei Meter entfernten Kommandozentrale stürzen sich auf das Gestell mit den Waffen.
    Willie blafft: Eine verdammte Bewegung, und euer Kumpel ist tot.
    Sie erstarren.
    Willie befiehlt ihnen, sich auszuziehen. Sie schnallen ihre Gürtel auf, lassen die Hosen fallen. Weiter, sagt er. Als sie nur noch in Unterhosen dastehen, müssen sie sich auf die Seite legen. Willie fesselt sie an Händen und Füßen.
    Dann zieht Willie die Uniform eines Wachmanns an, schnappt sich den Hauptschlüssel aus der Hüfttasche des Oberaufsehers und rennt zu Block D. Kliney und Akins stoßen einen Jubelschrei aus. Willie schließt ihre Zellen auf und führt sie zurück zur Kommandozentrale. Freddie, Kliney und Akins ziehen ebenfalls Uniformen an, dann rennen sie hektisch hinunter in den Keller.
    Die Leiter liegt an der von Ratte beschriebenen Stelle. Jeder der vier packt eine Sprosse, und wie Feuerwehrmänner stürmen sie durch die Kellertür in den Hof.
    Es schneit immer noch. Schwere Flocken, groß wie Karteikarten. Willie stellt die Leiter an die Mauer, und Freddie klettert als Erster hoch. Der Strahl eines Suchscheinwerfers wackelt wild über den Schnee.
    Hey, ihr da! Halt!
    Willie hört Stiefelgepolter, als die Wachposten oben in den Türmen auseinanderstieben. Einer feuert eine Ladung ab. Kugeln fetzen durch den Schnee, zersplittern die Leiter. Zwei Sprossen fliegen weg, zermahlen wie Staub.
    Willie brüllt zum Turm hinüber: Feuer einstellen! Wir sind von der Wache, seht ihr das nicht?
    Die Wachposten spähen nach unten. Sie erkennen die Uniformen, aber nicht die Gesichter. Der Schnee fällt zu dicht, und die Flocken reflektieren das Licht der Scheinwerfer. Willie und Akins nutzen die Chance, flitzen die Leiter hoch und machen oben von der Mauer einen Schwalbensprung. Genau deshalb hat Willie auf den schwersten Schneesturm des Jahres gewartet: Die Schneeflocken bieten nicht nur Deckung, die tiefe Schneewehe am Grund der Mauer garantiert auch eine weiche Landung.
    Kliney kommt als Letzter. Er steht oben auf der Mauer. Die Wachposten ballern drauflos. Spring, Kliney! Er stößt sich ab, landet mit dem Kopf voran. Willie und Akins wollen ihn aus dem Schnee ziehen, aber er rührt sich nicht. Er hat sich verletzt, sagt Freddie.
    Ich glaube, ich hab mir das Genick gebrochen, stöhnt Kliney.
    Solange es nicht die Beine sind, sagt Willie und zerrt ihn auf die Füße.
    Dann rennen sie los. Holmesburg ist von freiem Gelände und Parks umgeben. Willie fühlt sich stark. Er spürt jeden Liegestütz und jede Rumpfbeuge der letzten Monate. Gierig zieht er die frische Luft

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