Knapp am Herz vorbei

uralte Strafzellen. Die Häftlinge nennen sie Klondikes. Sie liegen unter der Erde, sind kaum größer als Sarkophage und seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt worden. Hardboiled ordnet an, dass alle Mitglieder der Tunnelmannschaft nackt in eine Klondike gebracht werden.
    Dort sollen sie so lange bleiben, bis auch die beiden letzten wieder eingefangen sind.
    Es dauert acht Wochen. Polizisten in New York verhaften Freddie und Botchy schließlich in einem Nachtclub. Botchy trägt einen Smoking. Freddie hohe Absätze. Hardboiled holt die Tunnelmannschaft aus den Klondikes. Sie sind dem Tode nah. Sie dürfen sich waschen, anziehen, essen, und dann werden vier – die Schlimmsten von ihnen – nach Holmesburg verlegt, ein fünfzehn Kilometer weiter gelegenes Hochsicherheitsgefängnis.
     
    Sutton sieht sich um. Wo ist dein Partner?
    Legt einen neuen Film ein.
    Von wegen Film einlegen.
    Was?
    Ist er ein guter Fotograf?
    Der beste.
    Arbeitest du gern mit ihm?
    Das ist eine andere Frage.
    Mm.
    Abgesehen von seinem Können, ist er wie alle anderen Knipser bei der Zeitung. Nicht mehr, nicht weniger.
    Schwaches Lob. Hör mal, Kleiner, ich hab meine Zigaretten im Auto gelassen. Bring mich doch zurück zu Böser Cop, dann kannst du los und deine Freundin anrufen.
    Klingt gut.
    Sie gehen über die Rockefeller Plaza zur Fifth Avenue. Der Polara steht nicht mehr an der ursprünglichen Stelle. Sie schauen in beide Richtungen. Da – fünfzehn Meter weiter, im Schatten der Herkules-Statue. Knipser spricht bei geschlossenem Fenster ins Funkgerät. Warum hat er das Auto verstellt? Vorsichtig nähern sie sich. Schreiber öffnet die Beifahrertür. Der süßliche, schwindelerregende Duft von Marihuana wabert heraus.
    Knipser lässt das Funkgerät sinken. Ich musste das Auto wegfahren, sagt er.
    M-hm, sagt Schreiber.
    Ich spreche gerade mit der Lokalredaktion. Sie wollen, dass wir Willie bei irgendeiner Bank ein paar Straßen weiter fotografieren.
    Gut. Ich muss ihn ein paar Minuten bei dir lassen.
    Kein Problem.
    Sutton setzt sich auf den Beifahrersitz. Schreiber rennt über die Plaza zurück zum Münztelefon.
    Wir fahren gleich hin, sagt Knipser ins Funkgerät. Ja. Manufacturers Trust Building. Ich hab die Adresse. Ja. Verstanden.
    Er stellt das Gerät aufs Armaturenbrett und mustert Sutton. Sutton mustert ihn. Wieder riesige rotgeränderte Augen. Du siehst glücklich aus, sagt Sutton.
    Glücklich?
    Friedlich. Beinahe.
    Knipser lacht nervös. Wenn Sie das sagen.
    Rauchst du diesen Shit schon lange?
    Welchen Shit?
    Mann. Ich bitte dich.
    Knipser seufzt. Ehrlich gesagt, nein.
    Warum hast du angefangen?
    Knipser rollt seinen Schal auf und schlingt ihn sich langsam wieder um den Hals. Es gab mal eine Zeit, sagt er, da gelang es mir ganz gut, mich von meinem Job nicht auffressen zu lassen. Ich war kugelsicher. Und bekannt dafür. Ich hab Bilder von den denkbar schrecklichsten Szenen gemacht und es immer weggesteckt. Vor ein paar Jahren wurde ich nach Harlem geschickt. Eine junge Mutter, die zu viele Kinder durchbringen musste und nicht ganz richtig im Kopf war, hatte ihre kleine Tochter aus dem sechsten Stock geworfen. Der Reporter und ich waren vor der Polizei dort. Wir fanden dieses wunderschöne, einjährige Mädchen, es lag auf der Straße. Mit offenen Augen. Ausgestreckten Armen. Ich hab meine Arbeit erledigt und eine Rolle Film verschossen, so wie immer, aber als ich nach Hause kam, konnte ich nicht stillsitzen und zitterte unentwegt. Also ging ich raus und fragte die Jungs an der Ecke nach irgendetwas, ganz egal, was, um die Nacht durchzustehen. Sie verkauften mir ein paar
LSD -Tabletten. Ich warf eine ein, aber es ging mir nicht besser, sondern schlechter. Viel schlechter. Ich hatte einen Todestrip, wie es so schön heißt.
    Was ist das?
    Ich will es nicht beschreiben. Das wäre Ihnen gegenüber unfair. Im Übrigen könnte ich es auch gar nicht. Sagen wir einfach, ich war an einem sehr schlimmen Ort. Ich kam mir wie im Land der Toten vor. Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass ich den Tod wirklich begreife, dass ich begreife, wie schrecklich und bodenlos der Tod ist. Was so ungefähr das Letzte war, was ich in dem Moment fühlen wollte. Ich flippte aus, fing an zu schreien und zu heulen. Meine Lady wollte einen Krankenwagen rufen, aber ich hatte Angst, ich könnte dann meinen Job verlieren. Sie ging runter an die Ecke, kaufte ein bisschen Gras, und das entspannte mich etwas. Stoppte die Schweißausbrüche und die