Knapp am Herz vorbei
Schreckgespenster. Das Gras holte mich runter, half mir über die Erinnerung an das kleine Mädchen hinweg. Und so fing ich an, jeden Abend zu rauchen. Gleich nach der Arbeit. Dann davor. Dann tagsüber. Gras ist nach wie vor das Einzige, das wirkt.
Sie sitzen eine Weile schweigend da.
Ich kannte einen Typen, sagt Sutton. In Attica. Der baute ein bisschen Gras in seiner Zelle an.
Ist nicht wahr.
Die Wärter hielten es für irgendein Farnkraut.
Knipser lacht.
Der Typ meinte, das Gras gibt ihm das Gefühl, nicht in Attica zu sein. Als würde er über Attica schweben.
Hm. Kann ich gut nachvollziehen.
Sutton betrachtet seine Chesterfield, dann Knipser. Vielleicht hab ich dich falsch eingeschätzt.
Danke, Willie. Ich Sie auch.
Sag mal, hast du noch was von dem Zeug da?
Echt?
Sutton starrt vor sich hin.
Knipser sieht die Fifth Avenue entlang, dann wieder zu Sutton. Sie sehen beide zu Herkules, der im Begriff ist, die Welt auf sie herabzuschleudern. Knipser öffnet seinen Stoffbeutel, und Sutton schließt die Tür des Polara.
Neunzehn
Willie wird weggesperrt, Freddie ebenfalls. Das heißt, sie müssen tagsüber, nachts und sogar während der Mahlzeiten in ihren Zellen bleiben. Die einzige Unterbrechung ist eine halbe Stunde am Morgen, wenn die Wachen sie in einen kleinen Hof lassen. Um sich körperlich zu ertüchtigen. Und verspottet zu werden.
Willkommmen in Holmesburg, Ladys. Willkommen in der Burg.
Willkommen im Dschungel, Idioten.
Willie und Freddie stehen in einer windigen Hofecke, die Hände unter die Achselhöhlen geklemmt. Willie muss an die Tiere im Hudson-Schlachthof denken, wie sie sich in den Pferchen zusammenkauerten.
Wo sind die anderen?, fragt er.
Block D, sagt Freddie.
Scheiß Tunnel, murmelt Willie.
Dafür hat sich das nicht gelohnt, sagt Freddie.
Dafür lohnt sich gar nichts, sagt Willie.
Eines Tages, am Ende ihrer Hofzeit, als die Wachen sie in den Zellenblock zurücktreiben, überkommt Willie ein Gefühl. Er will nicht zurück. Natürlich will kein Gefangener zurück in seine Zelle, aber Willie will es wirklich nicht. Er überlegt, ob er die Wachen anflehen soll:
Bitte, schickt mich nicht zurück, ich halte es nicht mehr aus. Bitte!
Er findet diesen Gedanken völlig verrückt und normal zugleich. Als er dann in seiner Zelle ist und sie die Tür schließen, rennt er gegen die Wand und wirft sich immer wieder dagegen, bis er auf dem Boden zusammenbricht. Seine Schulter ist ausgekugelt. Ein paar Tage später, nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus, wird ihm der Hofgang aberkannt.
Er gibt auf und versinkt in der weichen Leere zwischen Apathie und Wahnsinn, die so viele Gefangene heimsucht. Er hört sie nachts, die Gebrochenen, seine Brüder, die den Mond beschimpfen. Er gesellt sich zu ihnen. Den Großteil des Jahres 1946 ist er so gebrochen, wie man nur sein kann.
Wenn er nicht schreit, schläft er. Vierzehn, sechzehn Stunden am Tag. Wenn er träumt, kann er bei Bess sein und am Strand in Coney Island spazieren gehen oder durch den Wald fahren. Aus solchen Träumen aufzuwachen ist eine Qual. Die Rückkehr in die Wirklichkeit ist schlimmer als die Rückkehr in die Zelle. Trotzdem ist es ein Handel, zu dem er gern bereit ist. Er schläft immer länger und immer tiefer.
Aber irgendwann reißt er sich zusammen und fängt an, seinen Körper wieder aufzubauen. Liegestütze, Rumpfbeugen, jeden Tag Hunderte. Dann kommt sein Geist an die Reihe. Er darf zwei Bücher pro Woche aus der Anstaltsbibliothek ausleihen, und er verschlingt sie, lernt sie auswendig. Er greift auf alte Favoriten zurück.
Komm zu mir in den Garten, Maud, ich steh hier am Tor allein.
Er rezitiert sie, singt sie den Wänden vor.
Nun kommst du aus einem Menschengewühl.
Sollen die anderen den Mond beschimpfen, er liebt ihn.
Aus einem Wust von Worten rings um dich
.
Schreiber kommt zum Polara zurück. Okay, sagt er, packen wir’s.
Sutton steigt aus und klettert auf den Rücksitz. Wie geht’s der Freundin?, fragt er.
Gut, antwortet Schreiber.
Sutton lacht. Aber es ist nicht das typische raue Lachen. Eher ein piepsiges Kichern.
Schreiber fällt es auf. Und wie geht’s euch allen hier?, fragt er.
Gut, sagt Sutton. Besser denn je.
Knipser startet den Polara, schwenkt auf die Fifth und fädelt in den Verkehr ein. Schreiber schlägt sein Notizbuch auf. Mr Sutton, vor unserem nächsten Halt – Sie haben mir noch nicht erzählt, wie die Tunnelflucht geendet ist.
Nicht gut. Ich war nur ein paar Minuten
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