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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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ein – er ist frei, und das gibt ihm noch mehr Kraft, einen zweiten Energieschub. Sie überqueren Bahngleise, kommen zu einem Bach, waten durch und reißen sich die Uniformen vom Leib. Ihre Gefängniskluft ist nicht allzu auffällig. Schwarze Hosen, blaue Arbeitshemden. Immerhin kein Grau oder Streifen. Als sie die Hauptstraße erreichen, setzen die Gefängnissirenen ein.
    Willie schaut nach rechts und nach links. Kein Auto.
    Sie traben fast einen Kilometer. Immer noch kein Auto.
    Eine Minute, vielleicht noch zwei, dann sind ihnen die Wachen und Hunde auf den Fersen. Warum verdammt nochmal kommt kein Auto?
    Freddie zeigt auf etwas. Scheinwerfer.
    Irgendein Lastwagen, sagt Kliney und massiert sich den Nacken.
    Willie stellt sich auf die Straße und winkt mit den Armen. Der Fahrer vergisst, dass er sich in der Nähe eines Gefängnisses befindet, und hält an. Freddie erinnert ihn daran. Er hält ihm die . 38 er unters Kinn.
    Sie springen alle vier in den LKW . Der Fahrer schluchzt. Tut mir nichts, bitte tut mir nichts.
    Fahr los, sagt Freddie.
    Wohin?
    Fahr los, du Idiot.
    Der Fahrer tritt das Gaspedal durch. Willie hört lautes Klirren und Rasseln. Er dreht sich um und stellt fest, dass es sich um ein Milchauto handelt. Sein Energieschub ist plötzlich verschwunden. Ihm fällt ein, dass er den ganzen Tag nichts gegessen hat. Vor Schwäche kann er kaum den Verschluss auf der Flasche drehen. Er trinkt einen großen Schluck, wischt sich den Mund am Ärmel ab, reicht die Flasche an Kliney weiter, macht noch eine auf. Er probiert Buttermilch, Sahne, Magermilch. So gut haben selbst die besten Weine und seltensten Champagner nicht geschmeckt. Er schließt die Augen. Gott, ich danke dir wieder. Du musst auf meiner Seite sein – du musst. Warum solltest du mir sonst bei jedem Ausbruch solche Geschenke und Segnungen schicken?
    Der Geschmack von Milch wird Willie sein Leben lang an diesen Tag erinnern. An die Milch, die ihm am Kinn entlanglief, die schneebedeckten Straßen, die treibenden Schneeflocken. Und alle Erinnerungen werden in strahlendes Weiß getaucht sein. Die Farbe der Unschuld.
     
    Schreiber schaut auf die Uhr. Wir sollten weiter, sagt er.
    Sie steigen rasch wieder ins Auto, als wäre die Banksirene losgegangen, und fahren davon.
    Es ist unfassbar, Mr Sutton, dass Sie nach der gescheiterten Tunnelgeschichte den Willen zu einem weiteren Fluchtversuch aufbringen konnten. Ganz zu schweigen davon, dass die Beamten in Holmesburg Sie wahrscheinlich gut bewacht haben. Irgendwie fast unmöglich.
    Stimmt.
    Und wie ist es Ihnen gelungen?
    Die meisten fliehen nicht aus dem Gefängnis, weil sie glauben, es geht nicht. Man trichtert ihnen tagtäglich ein, dass es nicht geht – die Aufseher, der Anstaltsleiter, die Mitgefangenen. Und die äußeren Gegebenheiten – die Gitterstäbe und Mauern. Der erste Schritt bei einer Flucht ist der Glaube daran, dass man es schafft.
    Und der zweite Schritt?
    Da war diese Ratte, dieses kleine Würstchen. Ich hab ihn bearbeitet, um den Finger gewickelt und ihn dazu gebracht, mir eine Knarre und ein paar Sägen einzuschmuggeln.
    Wie Egan.
    Ja und nein.
    Kann mir jemand sagen, wohin ich fahren soll, sagt Knipser.
    Staten Island Ferry Terminal, erwidert Sutton.
    Warum?
    Das wirst du schon sehen. Schreiber öffnet seine Aktentasche und holt mehrere Mappen heraus. Mr Sutton, ich muss sagen, in den Zeitungsausschnitten wird dieser Ausbruch anders geschildert.
    Ach ja?
    Laut mehreren Zeitungen von damals hatte Freddie sich die Pistole ins Gefängnis schmuggeln lassen. Hatte Freddie das Schloss in seiner Zelle aufgebrochen. Mit einem Meißel. Dann hat Freddie Sie und die anderen befreit, und jemand hat mit einer Schere auf einen Wachposten, William Skelton, eingestochen. Als die Wachmänner anfingen zu schießen, haben Sie Skelton als menschlichen Schild benutzt.
    Ich hab es anders in Erinnerung.
     
    Am Stadtrand diskutieren sie, ob sie den Fahrer umbringen sollen. Sie stimmen darüber ab. Als er sieht, wie sie nacheinander die Hand heben, pinkelt sich der Fahrer in die Hose. Die Lasst-ihn-leben-Stimmen gewinnen mit drei zu eins.
    Bevor sie aus dem Lastwagen springen, packt Freddie den Fahrer am Kragen. Du fährst auf der Stelle nach Hause, erklärt er ihm. Dort stöpselst du das Telefon aus. Und zu keinem ein Sterbenswörtchen, sonst mache ich dich ausfindig.
    Der Fahrer schwört, keiner Menschenseele etwas zu erzählen.
    Ich bin immer noch dafür, ihn umzubringen, sagt Freddie, als die

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