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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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weicht.
    Und trotzdem bleibt ihm noch was, um sich zu amüsieren. Alle paar Abende geht er mit Eddie und Happy nach Coney Island. Wie konnte er bloß so lange ohne diesen verzauberten Ort leben? Die Musik, die Lichter – das Lachen. Auf Coney Island wird Willie zum ersten Mal klar: Bei den Suttons zu Hause wird nie gelacht.
    Am meisten liebt er das Essen. Er wurde mit schlappem Kohl und wässrigen Eintöpfen groß, jetzt hat er Zugang zum Festmahl eines Sultans. Sobald er aus der Straßenbahn steigt, riecht er die gerösteten Schweine, die gegrillten Muscheln in Butter, die jungen Hähnchen, die Filet Chateaubriands, die eingelegten Walnüsse, den römischen Punsch und stellt fest, dass er seit sechzehn Jahren hungrig war.
    Aber keine Delikatesse auf Coney Island ist so exotisch, macht so süchtig wie der vor kurzem erfundene Nathan’s Famous, auch Hotdog genannt. Mit Senf bestrichen und in eine Tasche aus weichem Weißbrot gesteckt – der bloße Anblick lässt Willie glücklich aufstöhnen. Happy kann fünf verdrücken, Eddie sieben. Willies Appetit auf Hotdogs ist grenzenlos.
    Nachdem sie sich vollgefressen und alles mit ein paar Krügen Bier hinuntergespült haben, versuchen sie die Blicke von hübschen Mädchen auf sich zu lenken. Aber hübsche Mädchen sind die einzige Delikatesse, die ihnen versagt bleibt. 1917 und 1918 wollen hübsche Mädchen Soldaten. Selbst Happy kann nicht mit den schicken Uniformen und weißen Matrosenmützen konkurrieren.
    Bevor sie mit der Ratterkiste nach Hause fahren, will Eddie noch unbedingt beim Amazing Incubator vorbeischauen, dem neuen Wärmeofen für Babys, die halbfertig herauskommen. Eddie drückt gern die Nase an die Glastür und winkt den sieben oder acht Frühchen auf der anderen Seite zu. Schau mal, Sutty, die sind so verdammt
winzig
. Wie kleine Hotdogs.
    Dass du nicht versehentlich mal eins isst, sagt Happy.
    Eddie brüllt durch die Glastür. Willkommen auf Erden, ihr armen Würstchen. Die verarschen uns alle.

Sechs
    Sie sind zu Hunderten über die Stadt verstreut, aber Happy sagt, nur zwei würden wirklich was taugen. Eines unter der Brooklyn Bridge, das andere in der Sands Street, gleich außerhalb des Navy Yard. Happy ist eher für das in der Sands. Die drei Mädchen da sind nicht unbedingt hübscher, sagt er. Nur lieber, gefälliger. Sie arbeiten Zehnstundenschichten, drei Kunden pro Stunde, und wenn ein Schiff eingelaufen ist, noch mehr. Er erzählt das mit der staunenden Bewunderung eines strammen Kapitalisten, der Henry Fords neues Fließband beschreibt.
    Um die Zeit der Schlacht von Passchendaele, der Einberufungskrawalle in Oklahoma und der Bergarbeiterstreiks im ganzen Westen statten die Jungen dem Etablissement in der Sands Street ihren ersten Besuch ab. Die Küche ist das Wartezimmer. Sechs Männer sitzen zeitunglesend um den Tisch und entlang der Wand, wie im Friseurladen. Die Jungen schnappen sich Zeitungen und setzen sich in die Nähe des Ofens. Sie pusten sich auf die Finger. Die Nacht ist kalt.
    Willie beobachtet die anderen Männer. Immer wenn einer geholt wird, spielt sich das Gleiche ab. Der Mann stapft die Treppe hoch. Gleich darauf, durch die Decke, schwere Schritte. Dann eine Frauenstimme. Dann gedämpftes Lachen. Dann quietschende Bettfedern. Dann ein lautes Grunzen, ein spitzer Schrei, ein paar Sekunden erschöpfter Stille. Schließlich eine zuknallende Tür, herunterkommende Schritte, und der Mann durchquert die Küche mit glühenden Wangen und einer Blume im Knopfloch. Die Blume ist gratis.
    Als Willie an der Reihe ist, befällt ihn eine Panik, die fast schon an einen Schlaganfall grenzt. Auf dem oberen Treppenabsatz zögert er. Vielleicht ein andermal, Happy, mir geht es nicht so gut. Mein Magen.
    Sag ihr, wo’s weh tut, Willie, dann küsst sie dich drauf, und es wird besser.
    Happy schiebt Willie in Richtung einer hellblauen Tür am Ende des Flurs. Willie klopft leise.
    Komm rein.
    Er stößt langsam die Tür auf.
    Mach die Tür zu, Schätzchen – im Flur zieht es immer so.
    Er tut wie ihm befohlen. Das Zimmer ist düster, nur von einer Kerzenlampe erhellt. Auf der Kante eines mit Rüschen besetzten Bettes sitzt ein Mädchen in einem babyrosa Negligé. Glatte Haut, langes volles Haar. Hübsche Augen mit dunklen Wimpern. Aber ihr fehlt der rechte Arm.
    Den hab ich verloren, als ich sechs war, sagt sie auf Willies Frage hin. Bin unter eine Straßenbahn gefallen. Darum nennen mich alle Wingy.
    Aus diesem Grund ist sie wahrscheinlich

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