Knapp am Herz vorbei
Knipser. Hier leben Leute?
Und sterben hier, sagt Sutton. Früher kam es vor, dass zwei Jungs in einem Imbiss saßen und einer dem anderen zuflüsterte: Ich hab das Paket in Red Hook abgegeben. Paket hieß Leiche.
Schreiber zeigt auf ein Schlagloch, das wie ein Mondkrater aussieht. Pass auf.
Knipser fährt mittendurch. Der Polara fängt an zu rattern wie eine alte Straßenbahn.
Die Radachse ist gebrochen, sagt Sutton.
Brooklyn ist voller Schlaglöcher, entgegnet Knipser.
Brooklyn ist ein einziges Schlagloch, sagt Sutton. Schon immer.
Schreiber biegt in die Beard ein, schlittert am Randstein entlang, schrammt die Radkappe. Sutton steigt aus und hinkt übers Kopfsteinpflaster zu einem erhöhten Fußweg am Wasser. Er steigt hinauf, umklammert das Geländer und steht da wie ein Diktator, der gleich eine Rede an eine Menschenmenge hält. Jetzt dreht er sich zu Schreiber und Knipser um, die am Auto warten, und ruft ihnen zu: Wie viele Menschen gibt es auf der Welt, drei Milliarden? Vier? Wisst ihr, wie groß die Chancen sind, die einzig Richtige zu finden? Tja – ich hab sie gefunden. Genau hier. An dieser Stelle.
Schreiber und Knipser überqueren die Straße, einer macht sich Notizen, der andere fotografiert.
Man ist nur lebendig, im wahrsten Sinne des Wortes, wenn man verliebt ist. Deshalb wirken fast alle wie tot.
Wie hieß sie, Mr Sutton?
Bess.
Sieben
Obwohl sie arbeitslos und fast pleite sind, verbringen die Jungen die Abende auf Coney Island, aber sie verzichten auf die Hotdogs, die Attraktionen. Sie gehen nur die Promenade auf und ab und sehen sich die Weihnachtsbeleuchtung an. Und die Mädchen. Happy hat eine alte Ukulele. Wann immer ein schönes Mädchen am Arm eines Soldaten vorbeischlendert, schlägt er einen misstönenden Akkord an.
Dann geschieht ein Wunder. Das schönste Mädchen in der Menge ist nicht in Begleitung eines Soldaten. Zwei Freundinnen sind bei ihr. Sie erkennt Happy wieder. Und Eddie. Dann Willie. Wenn das nicht die Beard Street Fishermen sind, ruft sie.
Mit ihren Freundinnen im Schlepptau kommt sie herübergerannt. Sie stellt sie vor. Die erste hat rotes Haar, hellgrüne, leicht eingesunkene Augen und dicke Augenbrauen. Doppelt dicke. Guck dir die Mieze an, flüstert Eddie. Als Augenbrauen verteilt wurden, hat sie sich wahrscheinlich zweimal angestellt.
Freundin eins und Eddie stellen fest, dass sie gemeinsame Freunde haben, und machen sich davon.
Freundin zwei, mit langem braunem Haar und Stupsnase, sagt nichts, sucht keinen Augenkontakt, wäre wohl am liebsten nicht hier. Ihre Zurückhaltung reizt Happy. Er nimmt sie am Arm, dreht sich um und zwinkert Willie zu. Was bedeutet: Bess gehört dir.
Sie trägt einen schönen blauen Hut mit tief heruntergezogener Krempe, ihre Augen sind nicht zu sehen. Als Willie ihren Hut und das passende blaue Kleid bewundert, blickt sie langsam zu ihm auf. Jetzt sieht er die goldenen Tupfer. Sie lähmen ihn, nehmen ihn gefangen. Er versucht wegzuschauen, aber es geht nicht. Es geht nicht.
Sie äußert sich wohlwollend zu Willies Kleidung. Zum Glück hat er seine Title-Guaranty-Anzüge nicht verpfändet. Zum Glück trägt er heute Abend einen, den schwarzen.
Sie gehen hinter ihren Freunden die Promenade entlang. Willie fragt Bess, wo sie wohnt. In der Nähe vom Prospect Park, sagt sie. Ich auch, sagt er. President Street, sagt sie. Oh, sagt er, dann wohnst du auf der schönen Seite. Das größte Haus in der Straße, sagt sie, es ist nicht zu übersehen. Das größte Haus, sagt Willie, die größte Schiffswerft. Bedeutet mir nichts, sagt sie, ist ja nicht
meine
Schiffswerft und ist auch nicht
mein
Haus.
Sie unterhalten sich über den Krieg. Bess liest alles. Jeden Abend sitzt sie mit ihrem Vater da und durchforstet die
Times,
außerdem lässt sie nie eine Ausgabe von
Leslie’s Illustrated
aus. Sie findet es kriminell, dass die Banken sich gegen Präsident Wilsons Plan sperren, Deutschland einen gnädigen Frieden zu gewähren.
Du hast ja wirklich eine feste Meinung, sagt Willie.
Es ist eine Schande, dass ich sie nicht an der Wahlurne ausdrücken kann.
Ach, Frauen kriegen bestimmt bald das Wahlrecht.
Mir wäre morgen schon zu spät, Mr Sutton.
Natürlich. Mein Fehler.
Er versucht, vom Thema Politik abzulenken, und erwähnt das milde Wetter. Ein ungewöhnlich warmer Winter für die Jahreszeit, oder?
Das kann mal wohl sagen.
Er fragt, ob Bess ihr richtiger Name ist.
Ich kam als Sarah Elizabeth Endner zur Welt, aber meine Freundinnen
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