Knapp am Herz vorbei
kämmen die Stellenanzeigen durch, füllen Bewerbungen aus, putzen Klinken. Aber die Stadt ist voll mit Soldaten, die ebenfalls Arbeit suchen. Die Zeitungen prognostizieren die nächste Depression. Die dritte in Willies Leben, aber diese scheint die schlimmste zu werden. Alles ist so trostlos und flüchtig, dass die Leute sich laut fragen, ob der Kapitalismus ausgedient hat.
Die Jungen sitzen in Red Hook auf den Felsen am Wasser und angeln, während Eddie laut aus einer Zeitung vorliest, die er aus dem Müll gezogen hat. Streiks, Krawalle, Unruhen – und auf jeder zweiten Seite das kurze Porträt eines jungen Mannes, der nicht mehr zurückkehrt.
Einer von vierzig, die in Übersee waren, liest Eddie, kommt nicht zurück.
Du liebe Güte, sagt Happy.
Wenigstens haben sie was mit ihrem Leben gemacht, sagt Willie.
Eddie steht auf, geht unruhig auf und ab. Er wirft Steine ins Wasser. Nichts hat sich
blansch
geändert, sagt er. Wir sind genau da
blansch
wo wir angefangen haben.
Blansch
.
Er hält inne, lässt den Stein in seiner Hand auf den Boden fallen. Er steht da wie eine Salzsäule und starrt in die Ferne. Willie und Happy drehen sich um, folgen seinem Blick. Jetzt stehen auch sie langsam auf und starren.
Happy rennt in ihre Richtung, nimmt seine Tweedmütze ab und verbeugt sich. Sie schreckt zurück, aber das ist nur gespielt. Sie hat keine Angst. Dieses Mädchen könnte nicht mal eine Kobra erschrecken, das merkt man. Außerdem steht Happy vor ihr. Sie schien in Eile zu sein und sehr zielstrebig, aber jetzt, da ihr jemand wie Happy über den Weg läuft, hat sie alle Zeit der Welt.
Das muss man diesem Happy wirklich lassen, sagt Eddie. Er setzt sich hin, rückt seine Mütze zurecht, überprüft die Angelruten. Willie nickt, setzt sich zu ihm. Alle paar Minuten drehen sie sich um und werfen ihrem Freund einen sehnsüchtigen Blick zu.
Happy kommt mit ihr herüber. Okay, ihr Penner, wacht auf, kommt auf die Füße. Bess, das hier ist der Beard Street Fishing Club. Von welchem diese beiden die Präsidenten sind: Mr Edward Wilson und Mr William Sutton. Freunde, sagt guten Tag zu Bess Endner.
Eine Aschblonde, so wird sie später in Polizeiberichten beschrieben, aber im späten Herbstlicht leuchtet ihr Haar in allen möglichen Gelbtönen. Butter, Honig, Zitrone, Bernstein, Gold – sogar in ihren leuchtend blauen Augen sind goldene Tupfer, als hätte, wer immer sie gemalt hat, etwas Gelb übriggehabt und nicht gewusst, was er damit anfangen soll. Sie ist klein, eins siebenundfünfzig, aber mit dem anmutigen Gang eines größeren Mädchens. Fünfzehn Jahre alt, schätzt Willie. Vielleicht sechzehn.
Sie trägt einen Holzkorb, hängt ihn über den anderen Arm, gibt erst Eddie die Hand, dann Willie.
Was ist in dem Korb?, fragt Happy.
Ich bringe meinem Vater Mittagessen. Dort drüben ist seine Schiffswerft.
Ganz schön große Schiffswerft, sagt Happy.
Die größte in Brooklyn. Gegründet von meinem Opa. Er kam im Laderaum eines Schiffs nach Amerika, und jetzt baut er selber welche.
Willie starrt sie an. Ein solches Selbstvertrauen wird ihm erst wieder bei Männern mit Revolvern begegnen. Eddie starrt sie ebenfalls an, aber es scheint sie nicht zu verunsichern. Wahrscheinlich kann sie sich nicht daran erinnern, jemals nicht angestarrt worden zu sein.
Sie zeigt auf die Angelruten. Beißen sie an?
Nö, sagt Eddie.
Was benutzt ihr als Köder?
Kronkorken, sagt Willie. Nagelköpfe. Kautabak.
Ist das Wasser nicht ziemlich eklig?
Wir verpassen den Fischen eine heiße Dusche und eine Rasur, bevor wir sie kochen, sagt Willie.
Sie lacht. Klingt köstlich. Wo wir gerade beim Essen sind, ich muss mich beeilen. Daddy wird stinkig, wenn er hungrig ist.
Zum Abschied winkt sie mit den Fingern. Bildet Willie es sich ein, oder hält sie seinem Blick wirklich eine halbe Sekunde lang stand?
Die Jungen stehen nebeneinander und sehen zu, wie sie die Beard Street entlanggeht. Sie sagen nichts, bis sie in der Werft ihres Vaters verschwindet. Dann sagen sie immer noch nichts. Sie legen sich auf die Felsen und halten die Gesichter in die Sonne. Willie schließt die Augen und beobachtet die goldenen Sonnenflecken unter seinen Lidern. Sie erinnern ihn an die Tupfer in Bess Endners blauen Augen. Seine Chance, die Sonne zu küssen, wäre bei weitem größer.
Eine Katze oder eine Ratte huscht vors Auto. Knipser weicht aus. Was zum –? Einen Block weiter, wieder eine Katze oder eine Ratte. Das ist also Red Hook, sagt
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